Jahrzehntelang interessierten sich in Deutschland weder Historiker*innen noch die Öffentlichkeit für eine umfassende Auseinandersetzung mit der deutschen Gesellschaft und dem Verhalten der deutschen Bevölkerung im Nationalsozialismus. Angesichts des Selbstbilds vieler Deutschen nach Kriegsende überrascht das wenig. Sie distanzierten sich von Adolf Hitler und der NS-Herrschaft und verstanden sich vor allem als deren Opfer. In den vergangenen Jahrzehnten haben neue Forschungen wie die Studien zu NS-„Volksgemeinschaft“ und gesellschaftliche Debatten, z.B. über das Ausmaß von Zwangsarbeit und die Entschädigung von Zwangsarbeiter*innen, den Blick auf die vielfältigen Handlungsoptionen und Verhaltensweisen der deutschen Bevölkerung im NS-Alltag erweitert. In der Folge hat sich unser Verständnis davon gewandelt, wie es zu den deutschen Massenverbrechen im Nationalsozialismus kommen konnte.
Mit den Fragen, wie die Shoah möglich war, welche Rolle die gewöhnlichen Menschen spielten und warum so viele diese Verbrechen unterstützt oder geschwiegen haben, anstatt den Opfern zu helfen, befasst sich auch die Ausstellung „Einige waren Nachbarn: Täterschaft, Mitläufertum und Widerstand“ des United States Holocaust Memorial Museums (USHMM). 22 Poster mit Informationstexten und zahlreichen historischen Fotografien sowie drei Videos regen zur Auseinandersetzung mit diesen Fragen an. Das Gute ist, niemand muss dafür die Tausenden Kilometer auf sich nehmen, um in Washington die Ausstellung besuchen zu können. In Kooperation mit deutschen Institutionen wird die Ausstellung regelmäßig hierzulande gezeigt. Aktuell ist sie in Kassel und Erfurt zu sehen, ab März in Dresden und ab Mai in Pirna. Außerdem besteht die Möglichkeit, die Ausstellung in der eigenen Stadt selbst auszurichten. Alle hierfür relevanten Informationen stellt das USHMM auf seiner Webseite zur Verfügung.
Der erste Teil der Ausstellung „Überzeugungstäter, Opportunisten, Konformisten, Dissidenten“ richtet den Fokus auf das Deutsche Reich und thematisiert die zentrale Bedeutung, die der Antisemitismus für die Herrschaft der Nationalsozialisten hatte. Deren Politik konnte in der deutschen Bevölkerung an weitverbreitete antisemitische Einstellungen anschließen. „Es gab Deutsche, die völlig von der Behauptung der nationalsozialistischen Rassenideologie überzeugt waren, dass Juden für das Überleben der ‚überlegenen arischen‘ Menschen eine tödliche Bedrohung darstellten.“ (Poster 2) Aus dieser Überzeugung heraus unterstützten sie die immer radikaleren Maßnahmen gegen die Jüdinnen*Juden. Bei anderen stoß die antisemitische Politik auf Gleichgültigkeit. Solange die neue Regierung vermeintliche Erfolge vorweisen konnte wie beim Abbau von Arbeitslosigkeit, nahmen sie die Diskriminierung und Verfolgung ihrer jüdischen Mitbürger*innen als „Kollateralschaden“ in Kauf. Gleichzeitig profitierten sie von den Berufsverboten, Enteignungen und „Arisierungen“.
Damit die Nationalsozialisten ihre Ziele erreichen konnten, genügte es nicht, in den Berliner Zentralen neue antisemitische Maßnahmen zu beschließen. Die Ausstellung macht anhand von Fotografien deutlich, dass unzählige Deutsche bereit waren – sei es aus Überzeugung, Opportunismus oder Angst –, diese Maßnahmen im eigenen Alltag auch umzusetzen. Die Aufnahmen zeigen die Hütte eines Berliner Frauenvereins, deren Zutritt Jüdinnen*Juden verboten wurde, antisemitische Prangerumzüge mit Schaulustigen oder die öffentliche Verbrennung einer Synagogen-Einrichtung am 9. November 1938, an der Lehrkräfte mit ihren Schüler*innen teilnehmen.
Aber auch andere Reaktionen auf die Gewalt gegenüber Jüdinnen*Juden werden präsentiert. Der Polizist Erich Troch aus Felsberg stellte sich während der Novemberpogrome schützend vor eine jüdische Familie. Der Bürgermeister von Fischbach hielt Randalierende davon ab, die örtliche Synagoge anzuzünden. In seinem Tagebucheintrag vom 24. November 1941 berichtet der bekannte Romanist und ehemalige Professor Victor Klemperer von Menschen, die ihn nach wie vor grüßen trotz oder vielmehr wegen des gelben „Judensterns“, den er auf seiner Kleidung tragen muss – ein kleines Zeichen der Solidarität und des Mitgefühls, während die Mehrheit wegschaute.
Der zweite Teil der Ausstellung widmet sich unter dem Titel „Deutsche Besatzer, örtliche Rekruten, Nachbarn“ dem Massenmord an der jüdischen Bevölkerung und den unterschiedlichen Formen von Mittäterschaft in den von den Deutschen besetzten Gebieten Osteuropas und der Sowjetunion. Die Motive, um mit den deutschen Besatzern zu kooperieren, waren vielfältig: eigener Antisemitismus, materielle Vorteile durch Arbeit, Nahrung und geplündertes jüdisches Eigentum, die Hoffnung, so die eigene Abschiebung zur Zwangsarbeit zu verhindern, oder der nationalistische Wunsch nach einem unabhängigen Staat, den die Deutschen mit einem Sieg über die Sowjetunion ermöglichen könnten. Die deutsche Hauptschuld an der mörderischen Gewalt bleibt jedoch unbestritten. Die Besatzer instrumentalisierten Spaltungen und Spannungen in den besetzten Gesellschaften, um ihre antisemitische Politik voranzutreiben. Dennoch gab es unter der lokalen Bevölkerung auch Helfer*innen wie der in der Ausstellung kurz vorgestellte Jan Majewski, die Jüdinnen*Juden beim Überleben und der Flucht unterstützten.
Der letzte Ausstellungsteil „Regierungen, Staatsdiener, Beobachter“ dreht sich um die Frage der Kollaboration in den restlichen europäischen Staaten, die mit dem Deutschen Reich verbündet oder von ihm besetzt waren. Ein Poster dokumentiert zum Beispiel die Zusammenarbeit von französischen Polizisten und niederländischen Beamten mit deutschen Akteuren bei Deportationen in Westeuropa. Angesichts der häufigen Kollaboration bei der Verfolgung sind Ausnahmen umso bemerkenswerter. „Dänemark mit einer kleinen, integrierten jüdischen Bevölkerung war das einzige von Deutschland besetzte Land, dessen Regierung sich weigerte, antijüdische Maßnahmen zu ergreifen.“ (Poster 17) Mehr als 90 Prozent der dänischen Jüdinnen*Juden konnten mit Unterstützung ihrer Landsleute nach Schweden fliehen.
„Die zentrale Rolle Adolf Hitlers und anderer Nazis lässt sich nicht bestreiten, doch sie waren von unzähligen anderen abhängig.“ Mit der Feststellung dieser Tatsache führt die Ausstellung in ihr Thema ein. Sie macht deutlich, dass es ohne diese unzähligen anderen, die die antisemitische Politik der Nationalsozialisten unterstützt und von ihr profitiert haben oder sogar zu Mittätern wurden, nicht zu den Deportationen, Massenerschießungen und Todeslagern hätte kommen können. Ihr gelingt es dabei, einen Überblick über die verschiedenen Motive der gewöhnlichen Menschen und die komplexen Fragen der Kollaboration und Mittäterschaft zu geben.