Tobias ist noch ein Kind und wohnt mit seiner Familie in Lodz, als die Deutschen im September 1939 Polen überfallen. Nach der Annexion der Stadt zum Deutschen Reich nennen die Deutschen die ehemalige Hauptstraße in Hitlerstraße um. Die neuen Machthaber zwingen ihn und seine Familie, in das neu errichtete jüdische Ghetto zu ziehen. So beginnt die Geschichte von Tobias in Bald sind wir wieder zu Hause. Tobias ist eins von sechs jüdischen Kindern, deren Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus im Mittelpunkt der im Jahr 2020 im Cross Cult Verlag erschienenen Graphic Novel stehen. Jessica Bab Bonde hat die schwedischen Originaltexte verfasst, Monja Reichert die Texte ins Deutsche übersetzt und Peter Bergting die Geschichten der sechs Kinder illustriert.
Tobias, Livia, Selma, Susanna, Emerich und Elisabeth wachsen in den 1930er-Jahren in Osteuropa auf. Als Kinder erleben sie den Schrecken der deutschen Besatzung und die nationalsozialistischen Verbrechen. Ihre Geschichten sind nicht fiktiv. Bald sind wir wieder zu Hause basiert auf Interviews mit sechs Überlebenden der Shoah. Tobias Rawet, Livia Fränkel, Selma Bengtsson, Susanna Christensen, Emerich Roth und Elisabeth Masur haben Verfolgung, Deportationen, Selektionen und die Konzentrations- und Todeslager überlebt, während die meisten ihrer Familienmitglieder und Freund*innen von den Nationalsozialisten und ihren Helfern und Helferinnen ermordet wurden. Nach 1945 sind alle sechs auf unterschiedlichen Wegen in Schweden gelandet und haben dort ein neues Leben begonnen.
Eingeleitet werden die sechs Erzählungen von einem kurzen Vorwort der Autorin Jessica Bab Bonde. Sie wendet sich darin persönlich an die (jungen) Leser*innen und erklärt, was die Geschichten von Tobias, Livia, Selma, Susanna, Emerich und Elisabeth mit uns heute zu tun haben. „Ihr Leben begann genau wie meins oder deines. […] Als sie geboren wurden, konnten sie sich geborgen und sicher fühlen. Sie hatten alle Familie und Freunde, Sie hatten ein Zuhause, Nahrung und Kleidung. […] Sie lebten so, wie du und ich es tun.“ (4) Doch in den 1930er-Jahren änderte sich ihr Leben, für die einen langsam über mehrere Jahre hinweg, für die anderen über Nacht. Jüdinnen*Juden wurden immer gewalttätiger aus der Gesellschaft ausgegrenzt, isoliert und angegriffen. Sie lebten in Angst und mussten ums Überleben kämpfen. Die Mehrheit der Bevölkerung interessierte sich wenig für ihr Schicksal und schaute weg. Aus der Sicht von Bab Bonde könnte das wieder geschehen. Deshalb haben die sechs Überlebenden der Shoah ihre Geschichten erzählt, damit wir, so die Autorin, aus ihnen lernen können und heute Verantwortung für ein friedliches und tolerantes Miteinander auf der Welt übernehmen.
Die sechs grafischen Erzählungen geben auf jeweils neun bis 18 Seiten einen Einblick in die grausamen Erlebnisse von Tobias, Livia, Selma, Susanna, Emerich und Elisabeth. Sie werden linear aus der Perspektive des Kindes erzählt, einzelne Momente und Erfahrungen werden dabei ausführlicher geschildert wie z.B. die Deportationen und die Ankunft in den Lagern, die Trennung und der Tod von den Eltern oder die Befreiung durch die Alliierten. Kleine Kästchen mit Text und Sprech- und Gedankenblasen lassen die Leser*innen teilhaben an den Sorgen, Hoffnungen und Emotionen der Kinder. Die Sprache ist einfach und die Texte erklärend. Zum Beispiel erläutert Tobias in seiner Geschichte den Begriff Ghetto: „Die Deutschen meinten, alle Juden in Lodz sollten im selben Bezirk leben. Dieser Bezirk nannte sich Judenviertel oder Ghetto.“ (7)
Die Erzählungen behandeln unterschiedlich lange Zeiträume. Während die Geschichte von Livia mit den schleichenden Veränderungen in der ungarischen Gesellschaft bis zur deutschen Besatzung im Jahr 1944 beginnt – sie erzählt von dem ersten antisemitischen Übergriff in der Schule und den immer repressiver werdenden Gesetzen gegen Jüdinnen*Juden –, setzt Emerichs Geschichte unmittelbar mit den Selektionen in Auschwitz-Birkenau ein. Gemeinsam ist ihnen, dass alle sechs Erzählungen nach der Befreiung weitergehen. Sowohl der Weg nach Schweden als auch der weitere Lebensweg der sechs Shoah-Überlebenden bis in die Gegenwart werden kurz geschildert. Livia Fränkel beispielsweise wohnt heute in Stockholm und hat mehrere Kinder, Enkel*innen und Großenkel*innen. Sie arbeitete viele Jahre für die Vereinigung der Holocaust-Überlebenden und besucht Schulen, um jungen Menschen ihre Geschichte zu erzählen.
Peter Bergting hat die Geschichten der sechs Kinder eindrucksvoll illustriert. Dunkle Grau-, Rot- und Brauntöne dominieren und unterstützen die düstere Stimmung in den Erzählungen. Erst nach der Befreiung wird es wieder bunter und die Wiesen wieder grün. Die Zeichnungen sind realistisch. Die ausgemergelten Gesichter der Jüdinnen*Juden im Ghetto und der Häftlinge in den Konzentrations- und Todeslagern sind deutlich zu erkennen. Nicht nur einmal werden sie von den erzählenden Kindern als lebendige Skelette beschrieben und auch so gezeichnet. Dieser Realismus in Kombination mit den grauenvollen Erlebnissen der Kinder kann beim Lesen schockieren. Wenn sich Livia zum Beispiel nach ihrer Ankunft in Auschwitz-Birkenau bei einer polnischen Jüdin nach dem Schicksal ihrer Eltern erkundigt und diese dann aus dem Fenster auf den Schornstein zeigt und sagt: „Da drin brennen deine Eltern. Du wirst sie nie wieder sehen.“ (34) Ein anderes Beispiel sind die Leichenberge kurz vor der Befreiung des KZ Bergen-Belsen in den Geschichten von Livia (38) und Susanna (60, 66).
Bald sind wir wieder zu Hause eignet sich dennoch auf besondere Weise für jugendliche Leser*innen als Einstieg und als biografischer Zugang zum Thema Nationalsozialismus und die Verfolgung und der Mord an den europäischen Jüdinnen*Juden. Angesichts der zutiefst erschütternden Geschichten und Bildern ist es jedoch ratsam, gerade jüngere Leser*innen bei der Lektüre nicht allein zu lassen, sondern die Geschichten beispielsweise gemeinsam zu lesen oder zu besprechen.
Auch für den Einsatz in der Bildungsarbeit ist die Graphic Novel zu empfehlen. Sie enthält eine Reihe an hilfreichen Informationen zum besseren Verständnis der Geschichten und ihrem historischen Kontext: auf der ersten und letzten Doppelseite ist eine Karte abgebildet, die Europa während des Zweiten Weltkriegs mit den Grenzen von 1939 zeigt und auf der die Orte markiert sind, die in den sechs Geschichten eine Rolle spielen, z.B. die Geburtsorte der Kinder und die Standorte der Konzentrationslager. Eine Zeittafel gibt am Ende auf zwei Seiten einen Überblick über die Zeit vom 30. Januar 1933, der Tag der Machtübertragung an Adolf Hitler und die Nationalsozialisten, bis zum 20. November 1945, der Tag an dem in Nürnberg der internationale Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher begann. Ein Glossar mit zentralen Begriffen wie Antisemitismus, Konzentrationslager und Todesmärsche und Personen wie Hitler und Josef Mengele sowie drei Hinweise auf schwedische und deutsche Webseiten zum Thema Nationalsozialismus und Shoah schließen die Graphic Novel ab.
Tobias, Livia, Selma, Susanna, Emerich und Elisabeth hatten Geschwister und gleichaltrige Freund*innen, die im Unterschied zu ihnen nicht überlebt haben. In Yad Vashem erinnert das Denkmal für die Kinder an die etwa 1,5 Millionen jüdischen Kinder und Jugendliche, die in der Shoah ihr Leben verloren haben. Der Historiker Ulrich Herbert hat zu Recht einmal darauf hingewiesen, dass die Vorstellung ihrer 1,5 Millionen Einzelschicksale unerträglich sei. Umso nachdenklicher stimmt es, dass Verschwörungsideologien, Rassismus, Antisemitismus und Rechtsradikalismus in unserer Gesellschaft heute wieder stärker werden und Angriffe auf Jüdinnen*Juden zunehmen. Bald sind wir wieder zu Hause zeigt anhand der Geschichten von sechs Shoah-Überlebenden, wohin Antisemitismus geführt hat, und erinnert uns daran, die deutschen Verbrechen und die im Nationalsozialismus verfolgten und ermordeten Menschen niemals zu vergessen.