Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Von September 1944 bis März 1945 befand sich im Gebäude der damaligen Friedrichschule (heute Gustav-Wiederkehr-Schule) in Mannheims nördlichstem Stadtteil Sandhofen ein Konzentrationslager, das dem KZ Natzweiler (Elsass) als Außenlager zugeordnet war. Nahezu alle der 1.070 Häftlinge dieses Lagers waren (nicht-jüdische) polnische Männer und Jungen ab 14 Jahren, überwiegend Zivilisten, die während des Warschauer Aufstands im August 1944 verhaftet und als politische Gefangene zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden waren. In Mannheim mussten sie Zwangsarbeit für Daimler-Benz leisten.
Seit 1990 dokumentiert eine Gedenkstätte in den Kellerräumen der Grundschule die Geschichte des KZ-Außenlagers und erinnert an die Opfer des KZ Sandhofen. Träger der Dauerausstellung ist der Verein KZ-Gedenkstätte Sandhofen e.V. in Kooperation mit dem MARCHIVUM (ehemals Stadtarchiv Mannheim) und dem Stadtjugendring.
Bis 2014 richteten sich die pädagogischen Angebote der Gedenkstätte, angelehnt an die Bildungspläne und Curricula in Baden-Württemberg, ausschließlich an Jugendliche der Sekundarstufe (ab Klasse 8/9). Obwohl sich die Gustav-Wiederkehr-Schule (Grundschule) und die Gedenkstätte im selben Gebäude befinden, gab es lange Zeit keine Zusammenarbeit zwischen den beiden Institutionen. Sowohl unter der Lehrerschaft und den Eltern als auch seitens des Vereins KZ-Gedenkstätte existierten Vorbehalte und Skepsis, ob es möglich sei, das Thema Nationalsozialismus mit Kindern im Alter von 6 bis 10 Jahren zu behandeln. Erst im Frühjahr 2013 nahm sich der Verein dieser Herausforderung an und entwickelte auf Anregung der Schulleitung und in enger Absprache mit dieser ein Konzept für eine freiwillige Arbeitsgemeinschaft für Schüler*innen der Klassenstufe 4, die die Kinder mit der Gedenkstätte vertraut macht, basale Kenntnisse über die Geschichte des Nationalsozialismus allgemein sowie des KZ Sandhofen im Besonderen vermittelt. Im Mittelpunkt dieses Formats steht dabei nicht das Erlernen von Faktenwissen; Vielmehr zielt das AG-Konzept darauf ab, entsprechend des jungen Alters der Kinder, ein niedrigschwelliges interaktives Angebot historischen Lernens anzubieten, das thematisch um die Schwerpunkte Diskriminierung, Ausgrenzung und Verfolgung kreist und den Anspruch erhebt, Kinder im Umgang mit Geschichte zu sensibilisieren, ihr politisches und demokratisches Bewusstsein zu schärfen und zu einer Orientierung an Menschenrechten zu motivieren. Die überwiegend biographieorientierten Methoden historischen Lernens mit lokalen Bezügen sollen vergangenheitsbezogenes Wissen über den unmittelbaren Lebensraum der Kinder vermitteln und zugleich gesellschaftliche Probleme und Herausforderungen aus dem Erfahrungshorizont der Schüler*innen berücksichtigen (Gegenwartsbezug). Das Konzept richtet sich am aktuellen Stand der pädagogischen Forschung zur Vermittlung von Wissen über den Nationalsozialismus im Grundschulalter sowie altersentsprechenden didaktischen Prämissen aus, die darauf zielen, eine kognitive und psychische Überbelastung der Schüler*innen zu verhindern und sich an den Fähigkeiten und Bedürfnissen der Kinder zu orientieren.
Das Projekt wurde erstmals im zweiten Schulhalbjahr 2013/14 durchgeführt. Die als Pilotprojekt gestartete Geschichts-AG hat sich seitdem als fester Bestandteil des pädagogischen Angebots der KZ-Gedenkstätte Sandhofen etabliert.
Spätestens seit Beginn der 1990er Jahre wird in der pädagogischen bzw. geschichtsdidaktischen Forschung in Deutschland die Frage diskutiert, ob Nationalsozialismus und Holocaust bereits im Primarbereich des Schulsystems behandelt werden können und dürfen. Als Haupteinwände werden in der Regel vorgebracht, dass eine Thematisierung Kinder dieses Alters kognitiv, emotional und psychisch überfordere oder durch eine (aus eben diesem Grund notwendige) Reduktion der vermittelten Inhalte zu einer Entkontextualisierung und letztlich Bagatellisierung der NS-Verbrechen tendiere. Neuere Ansätze, die eine Thematisierung im Grundschulbereich befürworten, berücksichtigen jedoch diese Einwände und benennen Erfordernisse, Gestaltungsmöglichkeiten sowie Bedingungen (vgl. die Beiträge in Lernen aus der Geschichte 2/2010). Dass eine Thematisierung grundsätzlich möglich ist, darüber gibt es mittlerweile einen weitgehenden Konsens; diskutiert wird heute überwiegend über das „Wie?“.
Der häufig vorgebrachte Einwand, Grundschulkinder seien per se zu jung für eine erste Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus, suggeriert, dass Kinder keinerlei Vorwissen zum Thema hätten und historisches Lernen in diesem Fall nur schwer möglich sei, da keine Anknüpfungspunkte zur alltäglichen Lebenswelt der Kinder bestünden. Beides ist jedoch nur selten der Fall. Die meisten Kinder dürften selbst im Grundschulalter irgendwann einmal etwas über „Nazis“, „die Nazi-Zeit“ oder Hitler gehört haben, ohne aber ein Verständnis davon zu haben, wovon hier die Rede ist. Dass es sich dabei um etwas „Böses“ handelt, um Unrecht, das Menschen irgendwann in der Vergangenheit angetan wurde, wissen Kinder in weitaus größerem Maße als weithin angenommen.
In der heutigen Medien- und Kommunikationsgesellschaft werden Kinder zwangsläufig mit Themen wie Rassismus, Ausgrenzung und Verfolgung konfrontiert, die in die Gegenwart hineinreichen oder gar direkt in der Gegenwart geschehen. Zu nennen sei etwa die breite Medienberichterstattung zu den rechtsextremen Anschlägen in Halle (2019) und Hanau (2020) oder zur Mordserie des NSU. Jedes Kind, das gelegentlich Radio hört oder mit den Eltern Nachrichten schaut, erlangt davon zumindest beiläufig Kenntnis. Themen wie Rechtsextremismus, Antisemitismus, Rassismus, Krieg und Gewalt, Verfolgung und Flucht bleiben den Heranwachsenden nicht verborgen. Ist es für Erwachsene schon kaum erklärbar, wie Menschen zu derlei Taten in der Lage sein können, stellt sich für Kinder umso mehr die Frage nach dem „Warum“. Bei der Suche nach Sinn greifen wir, die wir die Geschichte des Nationalsozialismus kennen, oftmals auf die Geschichte zurück, von der wir uns Erklärungsansätze versprechen. Wenngleich wir die Mordtaten dadurch nicht „verstehen“ können, ordnen wir die Ideologie des NSU in seine historische Entwicklung ein und ziehen durch unser Wissen über den Nationalsozialismus wiederum Schlüsse für unser eigenes Handeln in der Gegenwart. Kindern diese Möglichkeit unter Berücksichtigung ihres Entwicklungsstandes gleichfalls zu ermöglichen, indem wir ihnen basale Kenntnisse über Ausgrenzung und Verfolgung im Nationalsozialismus sowie Formen der Gegenwehr und Grundwerte wie Solidarität, Respekt und Toleranz vermitteln, führt daher nicht zu Verwirrung und Desorientierung, sondern fördert im Gegenteil demokratisches Bewusstsein.
Wenn also, aus dieser Sichtweise, nicht nur Geschichte Fragen an die Gegenwart, sondern vor allem die Gegenwart Fragen an die Geschichte aufwirft, wird eine Vermittlung historischer Grundkenntnisse schon allein dadurch erforderlich, dass über den Nationalsozialismus gesprochen und geschrieben und der Opfer in Form von Gedenktafeln, Mahnmalen und anderen Erinnerungszeichen öffentlich gedacht wird, was auch von Kindern wahrgenommen wird. Die vom Kölner Künstler Gunter Demnig geschaffenen „Stolpersteine“ beispielsweise sind im öffentlichen Raum sichtbar, werden von Kindern auf dem Schulweg gesehen und werfen Fragen auf: Warum ist dieser Stein hier? Wer war diese Person? Warum wurde sie ermordet, wie auf dem Stein zu lesen ist? Wo und was ist Auschwitz? Nicht immer bekommen Kinder Antworten auf diese Fragen; die Art und Weise wie bzw. ob überhaupt darüber in den Familien gesprochen wird, kann sehr unterschiedlich sein. Nichtsdestotrotz speist sich das Vorwissen, das Kinder zum Thema Nationalsozialismus haben, unter anderem aus Erfahrungen innerhalb der Familie; oftmals ist dies von den Eltern überhaupt nicht intendiert: Erwachsenen ist es häufig nicht bewusst, dass sie Kinder indirekt mit dem Nationalsozialismus konfrontieren, wenn etwa über die Kriegsverletzung des Urgroßvaters gesprochen wird, in Fotoalben Familienmitglieder in HJ- oder Wehrmachtsuniform zu sehen sind oder aber, wenn Kinderfragen zu Stolpersteinen (um bei diesem Beispiel zu bleiben) mit der Begründung abgewiesen werden, das sei eine schlimme Zeit gewesen, worüber man erst später spreche, wenn die Kinder älter sind. Dies wirft für Kinder mitunter neue Fragen auf und weckt Neugier. Da die Fragen unbeantwortet bleiben, machen sich die Heranwachsenden ihr eigenes Bild, wie „es“ gewesen sein könnte.
Es ist daher davon auszugehen, dass auch unter Kindern bereits gewisse Geschichtsnarrative bestehen, die meist eher diffus sind und sich aus Versatzstücken einzelner Informationen, eigener Vermutungen und Schlussfolgerungen ergeben. Unter den Schüler*innen der Gustav-Wiederkehr-Schule kursierte beispielsweise vor Einführung unserer Geschichts-AG das Gerücht, dass die KZ-Gedenkstätte im Keller des Schulhauses eine Art Gruselkammer sei, in der Särge aufgebahrt seien und sich Überreste von getöteten Menschen befänden. Zu den Aufgaben der Gedenkstätte als Ort der historisch-politischen Bildung gehört es, mittels der Vermittlung historischer Fakten solchen Mythenbildungen und verzerrten Geschichtsvorstellungen entgegenzuwirken.
Der Erziehungswissenschaftler Ido Abram, ehemaliger Professor für Holocaust Education an der Universität Amsterdam, erachtete bei der Bildungsarbeit zum Nationalsozialismus mit Grundschulkindern die Schaffung von Identifikationsmöglichkeiten als essentiell. In seinem bereits Ende der 1990er Jahre entwickelten „Drei-Punkte-Programm“ definiert er die Förderung von Empathie, Wärme und Autonomie als wichtigste Prinzipien und Hauptziele einer Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus im Kindesalter (Abram 1998). Daran orientiert sich das Konzept unserer Geschichts-AG.
Leitgedanke der AG ist es, die Schüler*innen für Ausgrenzungs- und Verfolgungsmechanismen zu sensibilisieren und Handlungsmöglichkeiten in der Gegenwart zu akzentuieren. Menschenrechte und Zivilcourage bilden die inhaltliche Klammer des Konzepts. Da in der ersten Einheit die Übung „Die Rechte des Kaninchens“ (Compasito 2009, S. 89) durchgeführt wird, trägt die Arbeitsgemeinschaft auf Anregung der Schulleitung den Titel „Was hat ein Kaninchen mit unserer Geschichte zu tun?“. Die Kinder bezeichnen das Nachmittagsangebot meist als „Kaninchen-AG“.
Trotz des Anspruchs, einen reinen Transfer von Faktenwissen zu vermeiden, zielt das Kooperationsprojekt zwischen der Gustav-Wiederkehr-Schule und der KZ-Gedenkstätte unter anderem darauf ab, Kindern die Einrichtung näher zu bringen und die Geschichte des KZ-Außenlagers niedrigschwellig zu vermitteln. Die AG führt die Schüler*innen langsam an die Geschichte des KZ Mannheim-Sandhofen heran, die letztlich nur eine von vielen Themeneinheiten darstellt und erst gegen Ende des Schulhalbjahres behandelt wird. In den ersten Einheiten geht es allgemein um die Frage „Was war der Nationalsozialismus?“, wobei zentrale Aspekte der NS-Geschichte und deren Vorgeschichte (Kaiserreich, 1. Weltkrieg, Weimar) kindgerecht vermittelt werden. In der AG wird durchgehend mit Zeitstrahlen gearbeitet, die sukzessive von den Kindern selbst entwickelt werden. Darüber hinaus erhalten die Schüler*innen regelmäßig „Lexikon-Kärtchen“ zu zentralen Begriffen. Die einzelnen Themenblöcke (u.a. Gleichschaltung und Verbote, Hitlerjugend und BDM, Verfolgung politischer Gegner*innen, Antisemitismus und Judenverfolgung, Zweiter Weltkrieg) werden in mehreren Einheiten anhand der knapp einstündigen Audio-Sendung „Wie war das damals mit dem Nationalsozialismus?“ des NDR-Kinderprogramms Mikado behandelt. Dem Thema Judenverfolgung nähern sich die Teilnehmer*innen in mehreren Sitzungen überwiegend mithilfe des Bilderbuchs „Papa Weidt – Er bot den Nazis die Stirn“ (Deutschkron/Ruegenberg) und den von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand dazu entwickelten Begleit- und Arbeitsmaterialien. Die Themeneinheit „Zwangsarbeit im Nationalsozialismus“ wird zunächst nahezu ausschließlich anhand von mehreren Biografien behandelt. Erst danach folgt die Thematisierung der Geschichte des KZ Sandhofen. Hierzu lernen die Schüler*innen die Biografie von Andrzej Branecki (1930-2020) kennen, der 1944 im Alter von 14 Jahren aus Warschau verschleppt und über das KZ Dachau nach Sandhofen gebracht wurde. Das „Highlight“ der AG ist für die meisten Kinder der Besuch der KZ-Gedenkstätte inklusive Rundgang durch den Stadtteil auf dem „Weg der Häftlinge“. Die letzten beiden AG-Einheiten widmen sich erneut dem Thema Menschenrechte und legen den Fokus auf Kinderrechte sowie Mitbestimmungsmöglichkeiten von Kindern in der Gegenwart.
Didaktisch steht in der AG interaktives und multimediales Lernen, vor allem anhand von Biografien, im Vordergrund. Neben der Arbeit mit kurzen Texten wird eine Vielzahl von Audio-und Video-Beiträgen sowie Bild- und Fotomaterial eingesetzt, wobei insbesondere bei Letztgenannten auf einen Lokalbezug geachtet wird. Das Konzept beinhaltet zahlreiche spielerische und kreative Elemente und bietet den Kindern viel Raum für Diskussionen und Fragen.
Seit 2014 findet die AG jedes Jahr von Februar bis Juli wöchentlich in einem Klassenzimmer der Gustav-Wiederkehr-Schule statt; eine Einheit umfasst zwei Schulstunden am Nachmittag. Insgesamt ist die Arbeitsgemeinschaft auf 17-20 Einheiten ausgerichtet, die von zwei ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen der KZ-Gedenkstätte Sandhofen auf Honorarbasis durchgeführt werden. Finanziert wird das Projekt weitgehend über die Gedenkstättenförderung des Landes Baden-Württemberg.
Im Vorfeld der AG findet jährlich ein Informationsabend für Eltern statt, in dem das Konzept vorgestellt und auf Fragen der Erziehungsberechtigten eingegangen wird. An einem „Schnuppertag“ können nach Voranmeldung alle Schüler*innen der Klassenstufe 4 teilnehmen; die feste Teilnahme ist auf zwölf Kinder beschränkt. In der Vergangenheit war das Interesse an der AG seitens der Schüler*innen bisweilen so groß, dass die Teilnehmer*innen ausgelost werden mussten; im Jahr 2016 meldete sich fast ein Drittel des Jahrgangs an.
Aufgrund der Corona-Pandemie musste die AG im vergangenen Jahr leider nach wenigen Wochen abgebrochen werden; in diesem Jahr muss sie pausieren. Im Schuljahr 2021/22 soll die Arbeitsgemeinschaft mit einem überarbeiteten Konzept fortgesetzt werden.
Abram, Ido: Holocaust, Erziehung und Unterricht. Vortrag aus Anlass der Gründung der Forschungs- und Arbeitsstelle (FAS) „Erziehung nach/über Auschwitz“ am 20.05.1998. Online: http://www.uni-bamberg.de/fileadmin/uni/fakultaeten/split_lehrstuehle/didaktik_deutsch/Daten/Material_Brendel-Perpina/Anne_Frank/Abram__1998_.pdf.
Compasito – Handbuch zur Menschenrechtsbildung mit Kindern, hg. vom Zentrum für Menschenrechtsbildung der PHZ Luzern u.a., Luzern 2009, online: https://www.compasito-zmrb.ch/.
Deutschkron, Inge/Lukas Ruegenberg: Papa Weidt. Er bot den Nazis die Stirn, 4. Aufl., Kevelaer 1999.
Lernen aus der Geschichte: LAG-Magazin Nr. 2/2010: Nationalsozialismus – ein Thema für zeitgeschichtliches und moralisches Lernen in der Grundschule? Online: http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/Magazin/7740.
NDR Info – Mikado Zeitreise: Wie war das damals mit dem Nationalsozialismus? Sendung von Katja Eßbach, 2013, online: https://www.ndr.de/nachrichten/info/sendungen/mikado/Wie-war-das-eigentlich-mit-dem-Nationalsozialismus,audio554794.html
Schrader, Ulrike: Unterrichtsmaterialien zum Bilderbuch „Papa Weidt. Er bot den Nazis die Stirn“. Hg. von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand und dem Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt, 2. korr. Aufl., Berlin 2005.