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Ein wichtiges Dokumentationsprojekt zur Shoah war die jiddische Zeitschrift „Fun letstn churbn“ / „Von der letzten Zerstörung“[i]. Gemeinsam mit Frank Beer wird an der Arbeitsstelle Holocaustliteratur, finanziert durch die Friede Springer Stiftung, eine vollständige deutschsprachige Edition dieser Zeitschrift vorbereitet.
Die ersten Nachkriegsjahre boten denjenigen, die sich um eine Dokumentation des Holocaust – der damals freilich noch nicht so hieß – bemühten, einmalige Chancen. In den DP-Camps lebten an einem Ort Überlebende aus aller Herren Länder zusammen, die über ihren Alltag, die Verfolgung und Ermordung der Juden*Jüdinnen in ihren Heimatorten und in zahllosen Gettos und Lagern Zeugnis ablegen konnten und vielfach auch unbedingt wollten. Aber es gab auch gegenläufige Tendenzen – die Abkehr von der Vergangenheit, das Vergessen-Wollen oder Nicht-Sprechen-Können.
Israel Kaplan, ein Historiker aus Riga, erkannte die Möglichkeiten und wollte sie nutzen. Im November 1945 rief er dazu auf, Material zu sammeln und Zeugnis abzulegen. Jeder Überlebende sei ein lebendiger Schatz, „ein Zeuge und eine Quelle, die extrem wichtiges Material zur Verfügung stellen kann, das absolut unerlässlich ist, um eine grobe Geschichte der vergangenen Periode zu konstruieren“[ii]. Kaplan mahnte zur Eile, denn es war absehbar, dass sich dieses Zeitfenster durch die Abwanderung der DPs bald schließen würde.
Noch im November 1945 wurde die Zentrale Historische Kommission beim Zentralkomitee der befreiten Juden*Jüdinnen in der amerikanischen Besatzungszone gegründet. Ziel war es, unter der Leitung von Moshe Feygenboym Material für künftige Historiker*innen zu sammeln. Die Zeitschrift „Fun letstn churbn“ sollte die Sammlungstätigkeit unterstützen und die Überlebenden motivieren, zu schreiben und Dokumente zur Verfügung zu stellen. Neben einer Leserschaft in Deutschland wollte Kaplan auch all jene erreichen, die außerhalb des NS-Herrschaftsbereichs gelebt hatten, damit diese Informationen aus erster Hand erhalten.
Feygenboym benannte in der ersten Ausgabe ein weiteres Ziel. Er sah allerorten eine Ignoranz der Shoah gegenüber oder ein Herunterspielen der Verbrechen. Er schrieb: „Zwar haben die Siegermächte eine Riesenmenge an Material angesammelt, doch haben sie dabei mitnichten die jüdische Frage im Sinn gehabt; zuallererst haben sie ihre eigenen Interessen im Sinn. Wir befinden uns in völliger Unkenntnis darüber, ob die als geheim klassifizierten Dokumente weiter geheim bleiben werden oder nicht. Und dabei ist es sehr zweifelhaft, ob einem jüdischen Historiker der Zugang zu diesen Dokumenten genehmigt werden würde. Viele Dokumente, die einen direkten Bezug zu uns Juden haben, werden von den Siegermächten überhaupt nicht gesammelt.“
Feygenboym ging noch einen entscheidenden Schritt weiter. Denn selbst wenn die Alliierten solche Dokumente in größerem Umfang gesammelt hätten, würden diese doch nur einen Ausschnitt zeigen, nämlich die Seite der Täter*innen. Für ein vollständiges Bild müssten die Überlebenden selbst Material sammeln beziehungsweise überhaupt erst schaffen, um dieser Einseitigkeit etwas entgegenzusetzen.
Dieser ‚Versuch‘ einer Zeitschrift währte von August 1946 bis Dezember 1948. In dieser Zeit erschienen zehn Ausgaben im Umfang von 66 bis zu 186 Seiten. Die Auflage schwankte zwischen 5.000 und 8.000 Exemplaren, allerdings liegt ihre Zahl nicht für jede Ausgabe vor.
Die Beiträge umfassten etliche Bereiche, die von weiten Teilen der Holocaustforschung erst seit einigen Jahren in den Blick genommen worden sind. Der Schwerpunkt liegt auf den deutsch besetzten Gebieten Mittel- und Osteuropas. Über zahlreiche Gemeinden dieser Region gibt es Artikel. Im Fokus standen die Gettos, neben Riga und Kowno auch viele kleinere, der Widerstand dort und andernorts, das Alltags- und Kulturleben in den Gettos, die Vernichtungslager, auch jüdische Kriegsgefangene und Kinder.
Kaplan war es ein besonderes Anliegen, über Zeugnisberichte hinaus Witze, Gerüchte, geflügelte Worte, Spitznamen, Anekdoten, die damals in den Gettos und Lagern kursierten, zu sammeln. Einleitend zum ersten Teil der Sammlung schrieb er, dass diese Anekdoten, Witze etc. das Einzige gewesen seien, was die Nazis den Juden*Jüdinnen nicht hätten nehmen können. Ihre Bedeutung setzte er hoch an. Sie waren, schreibt er, „Balsam für die verzagten Herzen und zerschlagenen Gemüter“.
Ein weiterer Schwerpunkt der Sammlungs- und Veröffentlichungstätigkeit waren Lieder aus den Gettos und Lagern. Jede Nummer der Zeitschrift enthielt Aufrufe, solche einzureichen bzw. sie bei der Kommission vorzusingen. Denn das Liedgut des Holocaust sollte nicht nur textlich gesichert, sondern auch und vor allem gesungen werden. Viele Lieder wurden sofort auf Platte aufgenommen.
In den DP-Camps entstand eine vielfältige jiddische Presselandschaft. In allen diesen Zeitungen und Zeitschriften gab es fortwährend Beiträge über die Shoah, darunter auch literarische Zeugnisse und Erinnerungsberichte. Kein Organ widmete sich dieser jedoch in derselben Intensität, Vielseitigkeit, Ausschließlichkeit und auch Professionalität wie dies „Fun letstn churbn“ leistete. Die Zeitschrift ist damit singulär in der jiddischen Presselandschaft Nachkriegsdeutschlands.
Das fand durchaus Anerkennung: Filip Friedman, der Leiter der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission in Polen, sah in „Fun letstn churbn“ die schönste jiddische Publikation in Deutschland und schätzte grundsätzlich den Wert der Sammlungsarbeit sehr. In einem Grußwort schreibt Friedman, er sei „voll der Bewunderung, ob dem, was Ihr in so kurzer Zeit geleistet habt“ und nennt es eine „heilige […] Arbeit“, die helfen werde, „unseren Märtyrern einen Gedenkstein zu errichten“ und die zudem „einen wichtigen Beitrag zu dem großen Yizkor-Buch"[iii] darstelle, das zu schreiben die Pflicht der Überlebenden sei. Damit reihte Friedman die Zeitschrift in die zahlreichen Dokumentationsprojekte in ganz Europa ein und zog eine Traditionslinie in die Vorkriegszeit.
Die Ziele und Methoden Kaplans und Feygenboyms – Menschen aller Schichten zum Zeugnisablegen zu motivieren, Dokumente zu sammeln, umfassendes Material über Alltag und Kultur anzulegen, Fragebögen zu verschicken, Aufsatzwettbewerbe auszuloben etc. – entsprachen denen jüdischer Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen des YIVO (Yidisher visnshaftlekher institut) in Wilna in der Zwischenkriegszeit und damit auch anderen Dokumentationsinitiativen in den Gettos wie der von Emanuel Ringelblum sowie denen der historischen Kommissionen in Polen und andernorts.
Im Getto Lodz/Litzmannstadt zum Beispiel zeichneten die Mitarbeiter*innen des offiziellen Getto-Archivs in ihrer Chronik auch kursierende Gerüchte und Witze auf. Als sie davon ausgehen mussten, selbst nicht zu überleben, machten sie sich 1943/44 daran, eine Enzyklopädie des Gettos zu erarbeiten, die für spätere Generationen unter anderem gettosprachliche Ausdrücke erklärte.
Den Prinzipien ‚Allseitigkeit‘ und ‚Objektivität‘ verpflichtet, wollten die Mitarbeiter*innen des Untergrundarchivs im Warschauer Getto alle Aspekte jüdischen Lebens unter deutscher Herrschaft dokumentieren und anhand des gesammelten Materials erforschen. Sie trugen alles zusammen, angefangen von Plakaten, Eintrittskarten, Lebensmittelkarten und Ähnlichem bis hin zu Untergrundzeitungen, Tagebüchern und Erinnerungsberichten. Sie schrieben Witze und geflügelte Worte auf, die im Getto kursierten. Um ein möglichst breites Spektrum abzubilden, befragten sie auch solche Personen, die selbst nicht schrieben. Es entstand so ein kollektives Archiv, in dem Zeitzeugenberichte eine große Rolle spielten. Nach dem Krieg haben Überlebende dies in zahlreichen historischen Kommissionen in ganz Europa fortgesetzt – in München knüpften Kaplan und Feygenboym daran an.
Anders als im deutschsprachigen Diskurs der unmittelbaren Nachkriegszeit legten in „Fun letstn churbn“ Juden*Jüdinnen selbst Zeugnis von der Shoah ab. Überdies entfaltete sich ihren Leser*innen eine Topographie der Erinnerung, in der all die kleinen und größeren Gettos im deutsch besetzten Mittel- und Osteuropa in den Mittelpunkt rückten und nicht KZ wie Dachau oder Oranienburg und damit vor allem die Verfolgungserfahrungen der politischen Verfolgten dominierten. So wurden in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander fundamental verschiedene Erinnerungslandschaften gezeichnet, die auch in den folgenden Jahrzehnten wie Paralleluniversen schienen und sich kaum einmal berührten oder überschnitten. Mit der deutschsprachigen Edition der Zeitschrift „Fun letstn churbn“, die voraussichtlich im Frühjahr 2020 erscheint, soll nun ein Ausschnitt der Erinnerungsräume des jiddischen Diskurses der Nachkriegszeit erschlossen werden.
Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt. Hg. von S. Feuchert u.a. 5 Bände. Göttingen: Wallstein, 2007.
Grossmann, Atina: Juden, Deutsche, Alliierte. Begegnungen im besetzten Deutschland. Göttingen: Wallstein, 2012.
Jockusch, Laura: Collect and Record! Jewish Historical Documentation in Early Postwar Europe. Oxford: Oxford University Press, 2012.
Kassow, Samuel D.: Ringelblums Vermächtnis. Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos. Reinbek: Rowohlt, 2010.
Margalioth, Ayelet Kuper: Yiddish Periodicals Published by Displaced Persons, 1946-1949. Ph.D. Thesis, University of Oxford, 1997.
Roth, Markus/Löw, Andrea: Das Warschauer Getto. Alltag und Widerstand im Angesicht der Vernichtung. München: Beck, 2013.
Schein, Ada: „Everyone can hold a pen“. The Documentation Project in the DP Camps in Germany. In: Bankier, David/Michman, Dan (Hg.): Holocaust Historiography in Context. Emergence, Challenges, Polemics and Achievements. Jerusalem: Yad Vashem, 2008, S. 103-134.
[i] ‚Churbn‘ ist die damals gebräuchliche jiddische Bezeichnung für Holocaust bzw. Shoah. Sie geht zurück auf die Zerstörung des Ersten und des Zweiten Tempels in Jerusalem. Da es im Jahr 1946 im Deutschen weder die Bezeichnung ‚Holocaust‘ noch ‚Shoah‘ gab, wird der Titel hier übersetzt als „Von der letzten Zerstörung“.
[ii] Die Zitate aus der Zeitschrift folgen der Übersetzung nach dem Stand vom Juli 2019. Die Übersetzungen aus dem Jiddischen haben Susan Hiep, Sophie Lichtenstein und Daniel Wartenberg angefertigt.
[iii] Hebräisch für „Buch des Gedenkens“ oder „Buch der Erinnerung“. Die Yizkor-Bücher wurden von Überlebenden für einzelne Gemeinden erstellt. Sie umfassen Übersichtsartikel über Abschnitte aus der Geschichte der Gemeinden, über herausragende Persönlichkeiten sowie Erinnerungen Einzelner über die Zeit des Holocaust.