Aus heutiger Perspektive, mit den negativen Schlagzeilen der vergangenen Monate im Hinterkopf, mutet es fast schon ironisch an: 1921 gründete sich im sächsischen Zwickau die erste NSDAP-Ortsgruppe außerhalb Bayerns. Wie heute war der Freistaat in den 1920er- und 1930er-Jahren in besonderem Maße von sozialer Spaltung geprägt; nach dem Regierungswechsel zählte Sachsen zu den „wichtigsten regionalen Zentren“ (S. 9) nationalsozialistischer Herrschaft. Dies konstatiert einführend der Sammelband „Sachsen und der Nationalsozialismus“, herausgegeben neben Weiteren von Günther Heynemann, Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung und Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Leipzig.
In Anlehnung an die jüngere NS-Forschung, die (wie die Geschichtswissenschaften im Allgemeinen) zunehmend gesellschaftliche Fragestellungen ins Auge fasst, verfolgen die Herausgeber_innen das Ziel, „basierend auf den Strukturen politischer Herrschaft die soziale Praxis von Akteuren, die auf der mittleren und unteren Ebene des Herrschaftssystems sowie im regionalen und lokalen Zusammenhang agierten“ (S. 16), darzustellen. Fünf Kapitel machen mit regionalem Schwerpunkt die Verschiedenheit der sozialen Gruppen im NS-Staat sowie ihre jeweils charakteristischen Handlungsspielräume sichtbar. Dabei geht es nicht nur um Teilhabe und Täterschaft, sondern auch um die Erfahrung von Ausgrenzung, Marginalisierung und Verfolgung. „Aushandlungsprozesse zwischen Herrschaft und Gesellschaft“ (S. 18) sollen auf diese Weise sichtbar gemacht werden.
Nach einem grundlegenden Text zu Forschungsstand und –perspektiven von Regionalgeschichte und NS-Forschung stehen im ersten Kapitel („Herrschaft und Unterdrückung“) zunächst das Wirken der NSDAP im Freistaat und ihre Herrschaftsstrukturen im Mittelpunkt. Stephan Dehn untersucht in einem Beitrag die Propaganda der sächsischen NSDAP im Jahr 1931. Der Autor sieht hier ein Schlüsseljahr, in welchem die NSDAP zwischen dem Durchbruch zur Massenpartei 1930 und dem alles verändernden Wahljahr 1932 „massive […] regionale Expansionsbestrebungen und verstärkte Ansätze zur Professionalisierung“ (S. 77) unternahm und auf diese Weise eine Vielzahl neuer Unterstützer gewinnen konnte. Diese Entwicklung fußte nicht zuletzt auf der Ernennung Joseph Goebbels‘ zum Reichspropagandaleiter 1930.
Waren die ländlichen Gebiete im südwestsächsischen Raum, hier vor allem das Erzgebirge und das Vogtland, früh für die Botschaft der Nationalsozialisten empfänglich, stieß die Bewegung in den Arbeiterhochburgen wie Leipzig, aber auch in den außerhalb gelegenen Gebieten Sachsens zunächst auf weniger fruchtbaren Boden. Um der NS-Ideologie zu weiterer Expansion zu verhelfen, setzte Goebbels nach seinem Amtsantritt vor allem auf Innovation und Professionalität und legte „besonderen Wert auf den Auf- und Ausbau der Propagandaapparate auf lokaler Ebene“ (S. 79). Dehn zeichnet die Entwicklung der nationalsozialistischen Presse und anderer Medien in Sachsen seit den 1920er-Jahren und damit ihre Wandlung von parteiinterner Propaganda zu einer Massenpropaganda nach.
Anschließend widmet er sich am Beispiel des sächsischen Gaupropagandaleiters Arthur Schumann den „parteioffiziösen“ NS-Propagandisten. Schumann trieb im Sinne Goebbels‘ die „gesellschaftliche Durchdringung der nationalsozialistischen Propaganda“ (S. 86) voran und verlangte von den „lokalen Propagandaeinheiten unermüdliche Kleinarbeit“ (S. 86), wozu fortan in besonderer Weise die Sabotage der Arbeit von KPD und SPD zählen sollte. Im Wirken Goebbels‘ und Schumanns im Jahr 1931 sieht Dehn einen entscheidenden Faktor für die „Professionalisierung von Arbeit und Organisation“ (S. 89) der örtlichen Propaganda und damit auch für die Durchdringung der sächsischen Gesellschaft über die eigene Wählerschaft hinaus.
Kapitel Zwei trägt den Titel „Teilhabe und Täterschaft“, womit es ein ähnliches Feld bearbeitet wie die diesjährige Oktoberausgabe des LaG-Magazins. Dieser Abschnitt zeigt in besonderem Maße, „dass Individuen nicht nur in einer […] Beziehung zur NS-Gesellschaft standen, sondern sie tatsächlich bildeten“ (S. 18). Die Beiträge betrachten unter anderem die Rolle universitärer Einrichtungen für die Herrschaftssicherung der Nationalsozialisten und das Handeln von Angestellten sächsischer „Euthanasie“-Anstalten.
Im darauf folgenden Kapitel „Anpassung und Abgrenzung“ untersucht Thomas Keiderling die Reaktion des sächsischen Buchhandels auf den Machtwechsel und die daran anschließenden Gleichschaltungsmaßnahmen im Jahr 1933. Auch, wenn NS-Zensur und Propaganda erst in den Folgejahren ihre volle Entfaltung fanden, kam es bereits im ersten Jahr des „Dritten Reichs“ „zu Denunziationen und Aktionen spontaner Verbote“ (S. 241). Das neue Regime weckte im krisengebeutelten deutschen Buchhandel wie in vielen anderen Industrie- und Handelsbranchen, so Keiderling, große Erwartungen. Der „Börsenverein der Deutschen Buchhändler zu Leipzig“ signalisierte schnell seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit und erhoffte sich Vorteile durch künftige staatliche Eingriffe in die Wirtschaft. Dabei biederte man sich der Partei unter Verwendung ihrer Rhetorik, etwa von „undeutschem Schrifttum“ und der „Judenfrage“, regelrecht an. Auch die ersten Verbotslisten gab der Leipziger Dachverband gutheißend an seine Mitglieder weiter. Der Buchhandel passte sich so erfolgreich an, dass 96 Prozent der Unternehmer keinerlei Repressalien ausgesetzt waren. „Mit großer Rasanz stellte sich diese Majorität ohne Druck irgendeiner Zensurbehörde auf die neuen Zeiten ein“ (S. 246).
Das vierte Kapitel („Eigensinn“) wendet sich sozialen Gruppen zu, die sich durch bestimmte nonkonformistische Haltungen und Handlungen auszeichneten, ohne dass diese dabei zwingend im Gegensatz zur NS-Herrschaft standen. Der Blick richtet sich dabei unter anderem auf Leipziger Jungkommunisten, Meuten, Broadway-Cliquen und die Sächsische Jungenschaft. Zuletzt stehen im abschließenden Kapitel „Kontinuitäten und Brüche“ die langfristigen Auswirkungen der NS-Diktatur in der sächsischen Gesellschaft, sowohl für Täter als auch für Opfer, im Mittelpunkt, etwa anhand mehrerer Biografien von Zwangssterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten.
Der Sammelband „Sachsen und der Nationalsozialismus“ wird seinem Anspruch gerecht und bringt die Potentiale von Regionalgeschichte zur Geltung. Er zeigt, wie es ein geografisch abgegrenzter Raum ermöglicht, in zum Teil noch unerforschte Tiefen einer Gesellschaft vorzudringen und dabei trotz des komprimierten Betrachtungsrahmens ein wesentlich komplexeres Bild zu zeichnen als herkömmliche Darstellungen. Einmal mehr sticht hier die (freilich nicht neue) Erkenntnis heraus, dass die nationalsozialistische Gewaltherrschaft nicht von einer kleinen Elite, sondern von der breiten Zivilgesellschaft getragen wurde.
Günther Heydemann, Jan Erik Schulte, Francesca Weil (Hsg.): Sachsen und der Nationalsozialismus, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014. 421 Seiten, 70 Euro.