„Was hat das mit mir zu tun?“, fragt Sacha Batthyány in seiner hier an anderer Stelle vorgestellten Familiengeschichte. Dabei bezieht er sich auf NS-Verbrechen, in die unter anderem seine Großtante verwickelt war. Dass diese Frage nicht nur Menschen mit eigener familiärer Belastung betrifft, erschließt sich vielen heute nicht mehr auf Anhieb. Diesem Trend entgegenzuwirken, war ein Ziel des Modellprojekts „Ortsbegehung“ der Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen („Weiterdenken“), das zwischen 2012 und 2014 durchgeführt wurde.
Der Untertitel „Stadtrecherchen zu Shoah und Täterschaft“ verrät bereits, was bei dem Projekt im Mittelpunkt stand: Lokalgeschichte. Jugendliche waren dazu eingeladen, sich historisches Wissen zu ihrer Heimatstadt anzueignen, „das kleine Handwerk des Stadthistorikers […] zu erlernen“ und ihre Recherchen und Eindrücke anschließend in einer selbst konzipierten Ausstellung zu vermitteln. Ziel war es, „Geschichte als Handlungen von Menschen vor Ort begreifbar zu machen und nicht nur als ferne Entscheidungen ‚von oben‘“, wie es auf der Website der Böll-Stiftung Sachsen heißt. Geschehen ist dies bislang in Freiberg, Döbeln und Leipzig, wobei sich dieser Artikel auf die beiden erstgenannten Städte bezieht.
Zu Beginn der drei „Ortsbegehungen“ standen jeweils Workshops, Stadtführungen, Filmstudien sowie Gedenkstättenbesuche und Gespräche mit Zeitzeug_innen. Die Jugendlichen erweiterten ihr Wissen über Nationalsozialismus und Holocaust, wobei Fragen nach Täterschaft im Vordergrund standen: Wie war es möglich, dass so viele Menschen zu Tätern wurden? Welche Motive, welche Handlungsspielräume hatten sie? In den Workshops wurden diese Fragestellungen auch auf die Gegenwart übertragen und Aspekte von Diskriminierung und Ausgrenzung diskutiert.
Im Anschluss ging es in die Archive. Nach einer Einführung in die Archivarbeit und Quellenkritik suchten die Jugendlichen nach Spuren von Täterschaft in ihrer Heimat. Sie erfuhren dabei, wie Menschen in ihrer Stadt an Verfolgung und Vernichtung beteiligt waren und welche Ausschnitte der jeweiligen Stadtgeschichte repräsentativ für das Vernichtungssystem des NS-Staates sind.
Nach ihren Recherchen begannen die Schüler_innen, ihre Ergebnisse inhaltlich und ästhetisch aufzubereiten, um sie dann der lokalen Öffentlichkeit zu präsentieren. Erfahrene Kurator_innen und Künstler_innen halfen ihnen dabei, sich kreativ mit der Thematik auseinanderzusetzen und den Ausstellungen einen innovativen und zeitgemäßen Anstrich zu verpassen.
In Freiberg etwa rekonstruierten Schüler_innen in fünf Teams jeweils einen Ausschnitt der örtlichen Geschichte im Nationalsozialismus. Im Mittelpunkt ihrer Nachforschungen standen konkrete Handlungsentscheidungen von Menschen in Freiberg während dieser Zeit. In der Ausstellung wurde bewusst darauf verzichtet, Menschen in die Kategorien Opfer, Täter und Zuschauer zu unterteilen. Viel mehr betrachtete sie die individuelle Tat an sich in ihrer ganzen potentiellen Bandbreite von Unterlassung bis Mord.
Thema der Ausstellung war auch die Freiberger Außenstelle des KZ Flossenbürg an dem Ort, wo sich heute der Sportplatz des Berufsschulzentrums befindet. Ab 1944 mussten dort 1002 Mädchen und Frauen bis zu ihrer Deportation im Jahr darauf in Zwangsarbeit Flugzeugteile fertigen.
Zentrales Ausstellungsstück war dabei die Gedenktafel „Ihnen“, die nach einem Entwurf der Künstlerin Stefanie Busch entstanden ist. Sie erinnert an die Schicksale von Jüdinnen und Juden, die nach oder von Freiberg deportiert wurden. Ein Tagebucheintrag der Überlebenden Helga Weissová vor dem Hintergrund der mit Kohle gezeichneten Höhenlinien des KZ-Geländes prägt die Tafel: „Wenn nicht irgendein Wunder geschieht, halten wir es nicht aus. Hoffentlich ist bald Schluss!“ In dominantem Orange sind darüber die Deportationswege der gesamten deutschen Vernichtungsmaschinerie zu sehen, die sich bis Auschwitz verdichten und schließlich dort zusammenlaufen. Mit Helga Weissová und ihrer Freundin Lisa Miková, ebenfalls Überlebende, hatten die Schüler_innen während des Entstehungsprozesses eine berührende Begegnung. Eine Postkarte zum Projekt zeigt die Gedenktafel im alltäglichen „Gebrauch“.
In Döbeln ist nicht nur eine Ausstellung entstanden. In dem Film „über wiesen“ nehmen die beteiligten Jugendlichen die Zuschauer_innen mit auf einen Gang durch ihre Stadt. Mit den einzelnen Orten verbinden sie nicht unbedingt konkrete verbrecherische Handlungen, sondern vielmehr alltägliche Situationen, die in der Summe aber als Fundament für den Holocaust dienten. Dazu gehörten etwa der Kauf der Tageszeitung mit judenfeindlichen Artikeln oder der Besuch des örtlichen Schwimmbads, zu dem Jüdinnen und Juden der Zutritt verboten war.
Ein szenisches Spiel imitiert die kalte Diskriminierungs- und Mordverwaltung mit ihren Akten ausfüllenden und stempelnden Zahnrädern. Der Kommentar betont die freiwillige Teilnahme all dieser Zahnräder am „gemeinsamen Unternehmen Massenmord“. Thematisiert werden außerdem die Entnazifizierungsverfahren in der Stadt Döbeln. Der Kurzfilm erörtert damit nicht nur ortsbezogene Aspekte von Täterschaft, sondern greift auch philosophische Fragen über Schuld und Unschuld auf.
Das Land Sachsen machte in jüngster Vergangenheit zunehmend negative Schlagzeilen. Sowohl in Freiberg, Döbeln als auch in Leipzig wurden in den vergangenen Monaten Brandanschläge auf Asylunterkünfte verübt. Mit der Teilnahme an Projekten wie der „Ortsbegehung“ setzen Jugendliche ein Zeichen dafür, dass systematische Ausgrenzung und Bedrohung einer Minderheit am selben Ort bereits schon einmal stattgefunden haben und sich auch in abgewandelter Form nicht wiederholen dürfen.
Es wäre erfreulich, wenn die als Modellprojekt gedachte „Ortsbegehung“ bleibende Motivation hinterlassen hat und in Zukunft nicht nur in Sachsen ähnliche Angebote entstehen. In jedem Fall hat sie gezeigt, wie tiefgründig und vielfältig sich eine vom Holocaust doch schon ein Stück entfernte Generation mit der Thematik auseinandersetzen und die NS-Verbrechen auch in lokalen Erinnerungskulturen wieder stärker verankern kann.