Der von Adorno als „Aufarbeitung der Vergangenheit“ gefasste Prozess der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Geschichte und der Shoah in Deutschland fand – in sehr unterschiedlichster Weise und Intensität – zunächst in erster Linie auf politischer, juristischer und gesellschaftlicher Ebene statt. Auf institutioneller Ebene – sowohl im staatlichen als auch im nicht-staatlichen Bereich – spielte die Zeit des Nationalsozialismus und die eigene Position innerhalb des Regimes hingegen wenn überhaupt nur eine sehr untergeordnete Rolle. So begnügten sich Festschriften und Firmenchroniken bis in die 1970er Jahre hinein meist mit wenigen Sätzen, um die Phase zwischen 1933 und 1945 abzuhandeln. Kooperation oder gar Mittäterschaft in Bezug auf die nationalsozialistischen Verbrechen spielte dabei in den allermeisten Fällen keine Rolle, stattdessen wurden Wendungen und Erklärungen gefunden, die die jeweiligen Handlungsmuster legitimierten und bagatellisierten. Erst langsam setzte in den letzten Jahrzehnten diesbezüglich ein Paradigmenwechsel ein. Das Portal Zeitgeschichte-online hat diesem Bereich der NS-Aufarbeitung einen eigenen Themenschwerpunkt gewidmet. In dem Dossier „Zeithistorische Konjunkturen. Auftragsforschung und NS-Aufarbeitung in der Bundesrepublik“ werden die beiden meist miteinander in Verbindung stehenden Komplexe der historischen (Auftrags-)Forschung und der (internen) NS-Aufarbeitung in Institutionen dargeboten und zur Diskussion gestellt. Die von Christian Mentel herausgegebene umfangreiche Publikation besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil vereint neun Aufsätze verschiedener Autoren, in denen Verlauf und Stand der NS-Aufarbeitung und Auftragsforschung in unterschiedlichen institutionellen Kontexten dargestellt wird. Die Wahl der Autoren bietet einen durchaus multiperspektivischen, kompetenten Einblick sowohl in die historische Bedeutung und Entwicklung des Forschungsfeldes als auch in die Herangehensweise und praktische Umsetzung einzelner (Auftrags-)Forschungsprojekte. Dabei nehmen die Aufsätze sowohl staatliche als auch nicht-staatliche Institutionen in den Blick. So befassen sich drei Texte mit verschiedenen Feldern der Freizeitgestaltung. Henning Borggräfe gibt einen Einblick in den Umgang mit der NS-Vergangenheit in Vereinen und Verbänden kollektiver Freizeitgestaltung. Anhand der Beispiele von Schützen- und Hundezuchtvereinen zeigt er auf, dass auch vermeintlich unpolitische Institutionen zu wichtigen Säulen des Regimes werden konnten. Anselm Heinrich befasst sich in seinem Aufsatz mit der Rolle der Theater im „Dritten Reich“ und in der Bundesrepublik. Dabei stellt er die weitläufige Annahme, viele Häuser hätten sich nach dem Krieg auf die Tradition der Weimarer Republik berufen, in Frage, und beschreibt stattdessen die personellen und inhaltlichen Kontinuitäten zur NS-Zeit, die vielerorts dominierten. In einem weiteren Beitrag gibt Hans Joachim Teichler einen Überblick über die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit im bundesdeutschen Sport.
Zwei Ausätze bieten einen Einblick in die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit in bundesdeutschen Unternehmen. In einem Überblickstext stellt Ralf Banken die verschiedenen Entwicklungen, Kontroversen und wichtigen Forschungsprojekte und Akteure der letzten Jahrzehnte dar. Banken macht dabei einen Boom in der akademischen Auftragsforschung der 1990er Jahre aus, der zwar in den letzten Jahren leicht abgenommen habe, doch nach wie vor wichtige und interessante Projekte zutage brächte. Im Zuge dieser Entwicklungen seien, so Banken, apologetische Arbeiten weitgehend seriösen Projekten gewichen. Als Beispiel einer gelungenen zeithistorischen Auftragsforschung stellt Sebastian Brünger das Projekt zur Aufarbeitung der Degussa-Firmengeschichte vor. Bei der „Deutschen Gold- und Silberscheideanstalt“ handelte es sich um ein tief in die nationalsozialistischen Verbrechen verstricktes Unternehmen, das sich unter anderem für das Einschmelzen des der jüdischen Bevölkerung geraubten Goldes verantwortlich machte. Zudem vertrieb die Degesch (Deutsche Gesellschaft für Schädligsbekämpfung), eine Tochtergesellschaft von Degussa und IG Farben, das Giftgas Zyklon B, welches zur Massenvernichtung in Auschwitz-Birkenau eingesetzt wurde.
Drei weitere Aufsätze befassen sich mit der Rolle staatlicher Institutionen während der Zeit des Nationalsozialismus. Ralf Forsbach gibt in seinem Beitrag einen Einblick in den Umgang mit den NS-Medizinverbrechen nach 1945, Stefan Alexander Glienke stellt die Aufarbeitung der NS-Justiz in Gesellschaft, Wissenschaft und Rechtsprechung der Bundesrepublik dar und Rüdiger Hachtmann zeichnet die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit an Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen in der Bundesrepublik nach.
Im zweiten Teil des Dossiers finden sich schließlich sieben Interviews des Herausgebers mit Historikern, die in den vergangenen Jahren an verschiedenen Auftragsforschungsprojekten mitgewirkt haben. Dabei handelt es sich in erster Linie um Projekte, die sich mit der Geschichte deutscher Behörden befassen, so zum Beispiel des Bundesjustizministeriums, des Bundeskriminalamts oder des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Die Interviews ermöglichen einen detaillierten Einblick in die Arbeit der Historiker/innen in einschlägigen Forschungsprojekten und geben einen Überblick über Möglichkeiten, Schwierigkeiten und Grenzen der Wissenschaftler in diesem Bereich.
Bei dem Dossier „Zeithistorische Konjunkturen. Auftragsforschung und NS-Aufarbeitung in der Bundesrepublik“ handelt es sich um eine ausführliche und informative Handreichung zum Thema institutionelle Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Durch die thematische Vielseitigkeit ergeben sich gerade in der Bearbeitung im Unterricht verschiedene Ansatzmöglichkeiten und perspektivische Eingänge in das Thema. Die einzelnen Aufsätze eignen sich hervorragend für eine selbstständige Gruppenarbeit mit Schüler/innen der Sekundarstufen I und II.