Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Ich bin 2011 mit einer Jugendgruppe aus Berlin-Hellersdorf in Begleitung von Frank durch Israel gefahren. Wir waren am Toten Meer, in Akko, auf dem Golan, in Galiläa, in Zfat, das ich liebe – und dann kamen wir nach Jerusalem. Natürlich. Da und dort - und ? Altstadt, Neustadt, Straßenbahn, Yad Vaschem. Immer und immer wieder ein Schock. Ich kenne die Geschichten von manchen, die da im Video gezeigt werden, genau, kenne sie auch als nahe Menschen: Roman Frister, den unbestechlich Ehrlichen auch über sich selbst und über das, was ihm da passiert ist, angetan wurde im Alter von 15 Jahren, Nahum Bandel, der im Internierungslager auf Zypern malen gelernt hat – und immer und immer wieder malte: Auschwitz, Magdeburg, Dr. Mengele. Nahum vor Josef Mengele. Man wird diese Geschichte nicht los. Ich höre ihnen zu, den Zeitzeugen – ich sehe die Bilder von Nahum oder Edith Kiss.
Das ist unsere Geschichte – da sind unsere Vorfahren, da marschierte im Gleichschritt unser williges Helfervolk. Deutschland war Braunschweig, war braun oder schwieg. Und Hitler kündigt in dem Filmdokument die Vernichtung der jüdischen Rasse an. Wir gehen durch die Ausstellung – mit den vielen Menschen aus Israel, aus aller Welt – und plötzlich sagen mir die Jugendlichen: Es ist hier nicht angenehm, deutsch zu sprechen und die deutschen Worte da in den Dokumenten zu verstehen.
Ich gehe durch die Ausstellung, bleibe da oder dort stehen, höre, sehe, spüre die Nähe der Menschen, der jungen Soldaten neben mir. Nein, es ist nicht angenehm, jetzt deutsch zu sprechen. Und dann lese ich die Texte über Heydrich, Eichmann – und die vielen anderen – und auch über Bulgarien oder die Dänen, die sich nicht zwingen ließen, willige Vollstrecker zu werden. Ich lese das und bin in mir versunken. Und die Jugendlichen neben mir sind auch in sich versunken, betroffen und manche weinen. Andere tun so, als wären sie cool – es ist ja nicht unsere Zeit und unsere Geschichte, nicht die von uns Jüngeren jedenfalls.
Ja, es gibt das Abblocken. Ich lass das nicht an mich heran, nicht in meine Seele. Party in Tel Aviv ist mir lieber. So kommt doch, lasst uns gehen.
Und dann gehen wir mit Tamar Landau durch den Park und zur Halle des Gedenkens und zur Gedenkstätte für 1,5 Millionen Kinder. Abgebrochene Stelen, abgebrochene Leben – ich habe jedes Mal einen Druck in der Magengegend und in der Seele, wenn wir hier hineingehen. Und dann stehen wir im Dunkeln und hören die dumpfe Musik und die Stimmen in englisch, hebräisch, jiddisch. Tamar hat uns nur bis zum Eingang gebracht – hindurchgehen müssen wir alleine. Ich gehe hinein – und bleibe irgendwo stehen – lausche auf die Namen und in mich hinein. Und die Jugendlichen unserer Gruppe? Manche sind erschrocken, traurig, fassungslos, weinen. Und dann kommen israelische Jugendliche hinein - stürmisch, lachen, gehen schnell hindurch, knutschen sich schnell mal im Dunkeln. Sie kennen das. Diese Geschichten haben sie zigmal gehört, gesehen, für sie nichts Neues. Lehrerinnen versuchen, sie zur Ruhe zu bringen, manchmal gelingt es, oft nicht.
Aber draußen – hinter der Ecke – da finden wir uns alle wieder. Tamar ist da, die israelischen Jugendlichen, unsere Gruppe und die Skulptur von Janusz Korzcak und seinen Kindern.
Was ist das? Da wird seine Geschichte erzählt – und etwas über seine wunderbaren Bücher für Kinder, sein für seine Waisenkinder gelebtes Leben, das mit ihnen in Treblinka durch Deutsche endete.
Und dann sitzen wir noch mit Tamar zusammen. Wir hören ihr zu, die mit gerade mal 15 Jahren auf dem Todesmarsch war und dann in Bergen-Belsen, kurz vor dem sich nähernden Tod ihren Simcha traf und sich dann gemeinsam mit ihm später aufmachte nach Israel. Hier leben sie – und sind bereit, uns und unsere Gruppe zu treffen und sich befragen zu lassen.
Diese Begegnung – solche Begegnungen sind es, die sich in der Seele festhaken und bleiben: traurig, befreiend, ehrlich, Anstöße dafür immer zu fragen und nochmals zu fragen, sich nicht betrügen zu lassen über das, was da war – und wach und mutig zu werden, für das, was da wird.
In unserer Gruppe waren Jugendliche aus der Türkei und Berlin, auch Kinder von Migrant/innen von sonstwo, aber hier waren sie dann vor allem Jugendliche. Die meisten haben sich Lernerfahrungen nicht verweigert, aber einige haben das alles erst einmal weit weggeschoben. Da lockte die Party in Tel Aviv denn doch zu sehr.