Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Kurz vor Weihnachten im vergangenen Jahr fand in einer Berliner Grundschule eine Aufführung der Weihnachtsgeschichte nach Carl Orff statt. Mehr als hundert Kinder von der ersten bis zur sechsten Klasse sprachen und sangen voller Begeisterung deutsche und lateinische Texte. Das Besondere für die Kinder war die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Jahrgänge – nicht, wie für Außenstehende, die Tatsache, dass sehr viele der Sprecherinnen- und Sprecherrollen von Kindern aus muslimischen Familien übernommen worden waren. Während alle Kinder, Eltern und Lehrkräfte, die Teil des Schullebens dieser speziellen Grundschule sind, sich erfreut und gerührt über die gemeinsame Leistung zeigten, betonten schulfremde Gäste immer wieder nur die vermeintliche Besonderheit, dass „nichtdeutsche Kinder“ an der Aufführung teilgenommen hätten.
In zeitlicher Nähe zu den Proben und der Aufführung diskutierten Vertreter und Vertreterinnen politischer Parteien die Frage, ob Veranstaltungen wie der St. Martinszug oder sogar Weihnachtsfeiern aus Rücksicht zu muslimischen Kindern umbenannt werden sollten. Hätten diejenigen, die diese Position vertreten, die erwähnte Aufführung erleben können, wäre ihnen vielleicht bewusst geworden, wie wenig wertschätzend ihre Haltung gegenüber allen Kindern unserer Gesellschaft ist. Und es stellt sich die Frage, ob die angestiftete Diskussion nicht mehr über diejenigen aussagt, die alte Traditionen abschaffen wollen.
Was hat nun dieser Sachverhalt mit der Frage des Geschichtslernens in heterogenen Gruppen zu tun?
Seit etwa 2005 wird in den Gedenkstätten und ihrem Umfeld diskutiert, wie Menschen nichtdeutscher Herkunft die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust näher gebracht werden kann. Seitdem haben immer mehr Vertreterinnen und Vertreter aus Gedenkstätten und anderen außerschulischen Lernorten und auch Lehrkräfte nachgewiesen, dass das Interesse an dieser Geschichte nicht in erster Linie an die Herkunft gebunden ist. Ob Jugendliche und Erwachsene, deren Familien nicht aus Deutschland stammen, an dieser Geschichte interessiert sind, hängt vor allem daran, ob sie sich bei der Behandlung des Themas angesprochen und anerkannt fühlen.
Geschichtslernen findet nicht im luftleeren Raum statt und so bringen viele Besucherinnen und Besucher nichtdeutscher Herkunft ihre Erfahrungen mit Rassismus, mangelnder Wertschätzung oder nicht Wahrnehmung des individuellen Hintergrunds durch die Mehrheitsgesellschaft in die Gedenkstätten mit. Schaffen die Mitarbeitenden dieser Lernorte nicht zu signalisieren, dass jede und jeder ungeachtet ihrer und seiner Herkunft und persönlichen Interessen am historischen Ort willkommen ist, schreiben sie die mangelnde Wahrnehmung unbewusst fort. Wenn Jugendliche sich in dieser Situation vorsichtshalber desinteressiert zeigen, um nicht von anderen ausgeschlossen zu werden, ist dies nachvollziehbar.
In der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz bemühen wir uns, eine "Pädagogik der Anerkennung" zu praktizieren, um alle unsere Besucherinnen und Besucher auf eine wertschätzende Weise anzusprechen.
Die Anerkennung wird dem Gegenüber auf sehr unterschiedliche Art und Weise ausgedrückt. So stehen im Eingangsbereich Informationsblätter in zahlreichen europäischen Sprachen zur Verfügung. Diese wurden mit Sprachen ergänzt, die in deutschen Klassenzimmern vertreten sind, um den Jugendlichen die Gleichwertigkeit aller Sprachen zu spiegeln, die in den Familien gesprochen werden.
Wichtig sind weiterhin Einstiegssequenzen bei pädagogischen Veranstaltungen, die den Besucherinnen und Besuchern zunächst die Möglichkeit bieten, ihren persönlichen Zugang zu Geschichte vorzustellen. Ob man hierbei mit Fotos arbeitet, auf denen unterschiedliche historische Ereignisse abgebildet sind oder mit einer Übung, ist unerheblich. Entscheidend ist das Signal, dass individuelle Zugänge zu Geschichte völlig legitim sind und keine Aussage über das Interesse am Nationalsozialismus beinhalten.
Als besonders bedeutsam haben sich auch Konzepte erwiesen, bei denen historische Informationen zu den in den Schulklassen vertretenen Herkunftsländern im Kontext der NS-Geschichte angeboten werden. So reagieren Schülerinnen und Schüler (aber auch Lehrkräfte) regelmäßig überrascht, dass es Bezüge zwischen dem NS und Griechenland, der Türkei oder Tunesien gibt. Hier spielt nicht nur die Anerkennung der Herkunftsländer der Familien eine Rolle. Alle Gruppen, die mit diesen Materialien arbeiten, können Vielfalt – in diesem Fall Bezüge zu anderen Ländern als Deutschland oder den sonst bei der Bearbeitung des NS und Holocaust üblichen – als etwas Normales erleben, das es bereits in den 1930er und 1940er Jahren gab.
Anerkennung bedeutet auch, dass wir Pädagoginnen und Pädagogen regelmäßig unsere Rolle und unsere Haltung reflektieren müssen. Schließlich beeinflusst unser Vorgehen und unsere Einstellung im pädagogischen Prozess die Reaktionen unseres Gegenübers maßgeblich. Dazu gehört ebenfalls die Einsicht, dass alles, was wir hören und wahrnehmen immer Auskunft über uns selbst gibt, wir also Äußerungen von Jugendlichen regelmäßig in unseren Erfahrungshorizont einfügen ohne nachzufragen, ob eine Aussage wirklich so gemeint war.
Diese Reflexion ermöglicht zu erkennen, ob bestimmte Äußerungen dazu dienen sollen, uns zu provozieren, Unwissenheit widerspiegeln oder von einer real problematischen Einstellung herrühren. Wirkliche Wertschätzung und Anerkennung heißt dann gegebenenfalls auch unbequeme Auseinandersetzungen zu führen. Wenn Jugendliche provozieren möchten, müssen wir versuchen, die Motivation für die Provokation herauszufinden. Wenn sie falsche Geschichtsbilder und Vorurteile von zuhause mitbringen, dürfen wir keine Vermeidungsstrategie einsetzen oder eine Aussage als „self-fulfilling prophecy“ im Raum stehen lassen. Reale Anerkennung bedeutet, Äußerungen ernst zunehmen und sich mit der Person und den Motiven auseinanderzusetzen, die sie gemacht hat.
So wichtig und tragfähig Anerkennung als Voraussetzung für die Auseinandersetzung mit Geschichte in heterogenen Lerngruppen ist, so geht mit ihr ein Risiko einher. Vergessen wir die Anerkennung allen unseren Besucherinnen und Besuchern entgegenzubringen, sondern reduzieren sie auf den Umgang mit denjenigen, die wir als besonders benachteiligt erkannt haben, kann die gewünschte Anerkennung zu einer erneuten Klassifizierung als „Andere“ führen. Dieses Risiko ist besonders hoch, wenn es um die Einbeziehung historischer Informationen zu den in deutschen Klassenzimmern vertretenen Herkunftsländern geht. Wenn im pädagogischen Prozess nicht sehr deutlich gemacht wird, dass diese Informationen sich an die gesamte Lerngruppe richten und die Fakten zu Griechenland im NS nicht von den Jugendlichen griechischer Herkunft oder die zur Türkei von Jugendlichen türkischer Herkunft bearbeitet werden müssen, finden Zuschreibungen statt, die die jeweiligen Jugendlichen auf das Herkunftsland ihrer Eltern oder Großeltern beschränken und damit reethnisieren.
Unter diesen Bedingungen können Jugendliche unterschiedlicher Herkunft sich nachhaltig mit dem Nationalsozialismus und Holocaust auseinandersetzen. Dass ihnen die Beschäftigung grundsätzlich wichtig ist, zeigt die Vielzahl an Bewerbungen von Schülerinnen und Schülern deutscher und nichtdeutscher Herkunft auf mehrmonatige Projekte, die das Haus der Wannsee-Konferenz seit mehreren Jahren unter Berücksichtigung der Pädagogik der Anerkennung ausschreibt.
Kehren wir zur Aufführung der Weihnachtsgeschichte zurück. Die Ankündigung hatte sich wertschätzend an alle Kinder gerichtet und die Haltung der Organisatorinnen und Organisatoren, die jedes Kind ungeachtet von Herkunft oder Glauben gerne dabei hatten, spiegelte sich schließlich in der Heterogenität und Begeisterung der Sprecherinnen und Sprecher.
Betrachten wir es als eine Selbstverständlichkeit, dass Jugendliche und Erwachsene ein gemeinsames Interesse am NS und Holocaust entwickeln, werden wir entsprechend einladend bei unseren pädagogischen Angeboten wirken.
Auch wenn eine Weihnachtsfeier und die Beschäftigung mit einer gewaltbelasteten Vergangenheit zwei unvergleichbare Ereignisse sind, gibt es eine strukturelle Ähnlichkeit: Beide sind integraler Bestandteil unserer Kultur. Aus vermeintlicher Rücksicht auf eine andere Religion oder Kultur Kindern und Jugendlichen die eigene Entscheidung zur Partizipation abzusprechen ist in keinster Weise ein Zeichen für Wertschätzung von Vielfalt.
Redaktionelle Anmerkung
Wir möchten Sie in diesem Zusammenhang auf unsere Vorstellung des Buches "Anerkennung und Erinnerung" auf diesem Portal hinweisen.