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Irina Scherbakowa über die Bedeutung des 2. WK für Russland

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Beitrags-Autor: AHomann

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Dr. Irina Scherbakowa (geb. 1949) studierte Germanistik in Moskau und war bis 1987 als Germanistin und Übersetzerin tätig. Von 1992 bis 2006 war sie Dozentin an der Russischen Staatlichen Universität für Humanwissenschaften in Moskau (Bereich „Oral History“) und ist seit 1999 bis heute Leiterin des Projekts „Allrussischer historischer Schülerwettbewerb“ der Menschenrechtsorganisation „Memorial“.

Ein Gespräch über die Bedeutung und die Erinnerung an den so genannten Hitler-Stalin-Pakt, Veränderungen im offiziellen Geschichtsbild Russlands seit der Perestroika und historische Bildungsarbeit in Russland.

Lernen aus der Geschichte (LaG): Am 1. September jährt sich der deutsche Überfall auf Polen zum 70. Mal. Kurz darauf, am 17. September 1939 besetzte die Sowjetunion den Osten Polens, eine Folge des "Hitler-Stalin Paktes". Für die Sowjetunion brach der 2. Weltkrieg offiziell dennoch erst im Juni 1941 aus. Wofür steht die Jahreszahl 1941 im heutigen Russland?

Irina Scherbakowa (IS): Der 22. Juni 1941 steht natürlich im russischen Bewusstsein für den Anfang des Krieges, genauer gesagt des „Großen Vaterländischen Krieges“. Der 22. Juni gilt im Massenbewusstsein als das eigentlich wichtige Datum. Der Hitler- Stalin Pakt und seine Folgen – die Teilung Polens, die Besetzung des Baltikums, die Repressalien und Säuberungen, die in den annektierten Gebieten sofort begannen, sind nur in der Erinnerung der betroffenen Völker geblieben. Der grausame Vernichtungskrieg, der im Juni 1941 begann, hat die eigene Rolle als Täter verdrängt. Nach dem Krieg wurde von sowjetischer Propaganda alles unternommen, damit das verdrängt wird. Die geheimen Zusatzprotokolle des Hitler-Stalin-Paktes waren bis 1989 unzugänglich und die sowjetische Seite hat ihr Vorhandensein bis zuletzt bestritten.

LaG: Inwiefern haben sich die Geschichtsbilder zum Zweiten Weltkrieg in Russland seit der Perestroika verändert?

IS: Das ist eine schwierige Frage, denn erst mit der Perestrojka war es möglich geworden die geheimen Zusatzprotokolle an die Öffentlichkeit zu bringen, denn bis dahin hat die sowjetische Macht das Vorhandensein dieser Protokolle stets verneint. 1989 fand zum ersten Mal in Moskau eine von der Gesellschaft Memorial organisierte Ausstellung zum Hitler- Stalin- Pakt statt. Aber in den letzten 10 Jahren hat sich in Russland in Bezug auf Geschichtsbilder vieles geändert. Der neue russische Nationalismus knüpft wieder an das alte sowjetische, sogar stalinistische Bild des Krieges an, deshalb wird dieses verbrecherisches Abkommen zwischen zwei Diktatoren als historische Notwendigkeit dargestellt. Heute wäre so eine Ausstellung wie 1989 kaum denkbar.

LaG: Das offizielle Geschichtsbild eines Landes wirkt sich auf die Beziehungen zu anderen Ländern aus. Polnisch-Deutsche Beziehungen sind bspw. durch die Auffassung überschattet, dass sich die Erinnerung an den Krieg in Deutschland von der Täter- zu einer Opferperspektive wandle. Bestehen ähnliche Befürchtungen in Russland? Wie wird mit der Erinnerung an den Vernichtungskrieg der Deutschen umgegangen?

IS:  Ich glaube, dass man die deutschen Bemühungen um die Aufarbeitung von Verbrechen des Nationalsozialismus durchaus akzeptiert. Schwierig ist das Eingestehen von eigenen Fehlern und schwarzen Flecken in der Kriegsgeschichte, die die bestehenden Mythen zerstören könnten. Schwierig ist natürlich der Umgang mit den Ländern, in denen die UdSSR keine Befreierrolle einnimmt. Man will die Besatzung (von der z.B. die Balten reden) nicht als solche akzeptieren.

LaG: Von polnischer Seite wird häufig kritisiert, dass Russland bislang zu wenig für eine Entschädigung, sei sie auch nur symbolischer Natur, getan habe. Was belastet das russisch-polnische Verhältnis aus russischer Perspektive?

IS: Dieses Verhältnis wird dadurch belastet, dass die offizielle russische Seite jetzt wieder alles unternimmt, um die Verbrechen in Katyn zu verschweigen bzw. die Rolle Stalins dabei nicht zu unterstreichen. (Im Massaker von Katyn ermordeten im Frühjahr 1940 Einheiten des sowjetischen Innenministeriums NKWD in einem Wald bei Katyn (SU) mehrere tausend polnische Offiziere und Zivilisten. Anm. der Red.) Die polnischen Offiziere werden von der russischen Generalstaatsanwaltschaft nicht als Terroropfer anerkannt, die Dokumente werden für die Historiker wieder unzugänglich gemacht.

LaG:  Was halten Sie von den Diskussionen in Russland um neue russische Schulgeschichtsbücher und deren Darstellung sowjetischer und russischer Geschichte seit 1945? Was bedeutet das für das historische Lernen in und außerhalb der Schulen?

IS:  Die Diskussion ist deshalb entstanden, weil es deutlich geworden ist, dass man aus den neuen Lehrbüchern die Erinnerung an den kommunistischen Terror verdrängen will, um ein positives Bild der russischen Vergangenheit zu schaffen. Das sei angeblich notwendig, um aus den jungen Menschen echte Patrioten zu machen. In meinen Augen ist das ein extrem gefährlicher Weg. Mit unseren alternativen Projekten (wie dem regelmäßig von MEMORIAL organisierten Schülerwettbewerb) versuchen wir die Jugendlichen zu einer wirklich tief greifenden und komplexen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu motivieren.

LaG:  Frau Scherbakowa, wir danken Ihnen sehr herzlich für das Interview!

Mehr über die Arbeit der Menschenrechtsorganisation MEMORIAL erfahren Sie auf ihrer Website, unter: http://www.memo.ru/deutsch/index.htm

 

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