Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Dass (Geschichts-)Unterricht heute nicht bedeuten kann, dass 30 und mehr Lernende zum gleichen Zeitpunkt bzw. im gleichen Zeitraum mit gleichen Voraussetzungen und Interessen im Gleichschritt, mit den gleichen Inhalten, Medien und Methoden mit gleichen Ergebnissen und Erfolgen unterrichtet werden (können), muss nicht mehr betont oder nachgewiesen werden. Gleiches gilt für außerschulisches Lernen.
Auch wenn Heterogenität, z.B. je nach Region und Schulart, unterschiedlich ausfallen mag, so spielen in der Regel Unterschiede, bedingt durch Geschlecht, kulturelle, soziale und religiöse Hintergründe, durch Begabung, Förderschwerpunkte usw. eine Rolle. Die Vielfalt der Identitäten und der zugrundeliegenden Prägungen bedeuten auch, dass die Begegnung mit der Geschichte, nicht auf völlige Unvoreingenommenheit, auch nicht bei Kindern und Jugendlichen, trifft. Vielmehr haben Familie, Freundeskreise, Erfahrungen und das weite Spektrum der Geschichtskultur bereits für Vorwissen, vor allem aber für Vorlieben, Haltungen und Einstellungen, Wertmaßstäbe, Abwehrmechanismen, Vorurteile u.v.m. gesorgt.
Auch bei Kindern, die mit vergleichbarem Background z.B. in den Geschichtsunterricht kommen, wird es Unterschiede in den persönlichen Interessen, im Wissen, in der Ausprägung des Geschichtsbewusstseins und der fachspezifischen Kompetenzen (wie Analyse- oder Urteilskompetenz), in der Fähigkeit, historisch zu denken und Gelerntes zu narrativieren, in der Selbstorganisation und –steuerung der eigenen Lernprozesse, in der Kommunikationsfähigkeit geben, die eben jede/n verschieden sein lassen.
Anders gesagt, sehen sich Lehrende vor der Aufgabe, Lernarrangements für das Fach Geschichte zu konzipieren, und zwar für motivierte und interessierte wie auch für demotivierte und desinteressierte Jugendliche, für ruhige, lebhafte und störend ausagierende Kinder, für atheistisch, christlich, muslimisch, jüdisch oder anders religiös orientierte Mädchen und Jungen, die in ihrer emotionalen, kognitiven und sozialen Entwicklung unterschiedlich fortgeschritten sind, für Lernende ohne und mit verschiedenen Förderschwerpunkten, mit Eltern aus Deutschland, anderen europäischen, aber auch afrikanischen, asiatischen, nord- oder südamerikanischen Ländern, aber sicherlich mit vielfältigsten Perspektiven. Diese ca. 30 Individuen sind für (Unterrichts-)Themen zu interessieren oder mindestens aufzuschließen, bei denen sie Wissen konstruieren, aber auch Einstellungen und Werturteile entwickeln sollten zu Themen wie z.B. Nationalsozialismus und Holocaust, Demokratie und Diktaturen, DDR- und BRD-Geschichte, zu Gegenständen der Alltags-, Global- und Geschlechtergeschichte, zu Längsschnitten über Krieg und Frieden und zu nicht zuletzt zu fachübergreifenden, an gegenwärtigen Schlüsselproblemen orientierten Themenzusammenhängen – und das kompetenzorientiert.
Die Atemlosigkeit, die sich bei diesen (alles andere als vollständigen) Aufzählungen einstellt, ist beabsichtigt und verweist auf die Vielfalt nicht nur der Voraussetzungen in den Klassenzimmern oder anderen Lernzusammenhängen, sondern auch die Anforderungen an die Unterrichtenden, die ihrerseits eine vielfältig ausgeprägte Persönlichkeit in den Prozess einbringen.
Der Blick auf die Heterogenität soll nun keineswegs erschrecken oder zur Resignation führen, auch wenn deutlich wird, dass es schwerlich möglich wird, jeder und jedem optimal gerecht zu werden. Nein, dieser Blick kann, ja muss die Vielfalt in Lehr- und Lernprozessen als Bereicherung deuten. Einer homogenen Schülerschaft, die es bei genauerer Betrachtung noch nie gab, nachzutrauern, würde bedeuten der Resignation das Wort zu reden.
Zu einem erfolgreichen Lehrhandeln gehören vielmehr die zeitweise Individualisierung des Lernens (weil jede/r anders ist) sowie binnendifferenzierende Maßnahmen (weil viele Individuen Unterschiedliches brauchen).
Individualisierung im Geschichtslernen meint Maßnahmen zur Entfaltung der Individualität des Einzelnen in der Aneignung von und in der Auseinandersetzung mit der Geschichte sowie die Förderung der individuellen Kompetenzen.
Differenzieren im Geschichtslernen meint (unterrichtliche) Maßnahmen zur Anpassung der historischen Lernangebote und der Leistungsforderungen an (Schüler-)Gruppen bzw. Individuen.
Für das Gelingen von Lehr- Lernsituationen benötigen die Lehrenden eine Haltung, die Respekt und Vertrauen den Einzelnen gegenüber deutlich macht und die das Zutrauen in individuelle Stärken und positive Leistungserwartungen ausdrückt.
Daneben werden, um die Mannigfaltigkeit von Gruppen zu nutzen, auch gemeinsame, auf Kommunikation, Interaktion und auf gemeinschaftlichen Handlungen basierende Prozesse wichtig, zu denen Auseinandersetzung und Widerstreit, Aushandeln und Kooperation sowie gegenseitige Unterstützung gehören.
Im Klassenraum, am außerschulischen Lernort, kann und muss gerade zu historischen und politischen Themen und Problemen das individuelle Lernen möglich sein, aber auch der Austausch darüber. Das gemeinsame Praktizieren und Reflektieren spiegelt gesellschaftliche Prozesse und bereitet darauf vor.
Eine zusätzliche Herausforderung zur vielleicht schon gewohnten Vielfalt stellt die Berücksichtigung der Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen von 2006 dar. Seit März 2009 stellen die Vorgaben dieser Konvention laut Beschluss der Bundesregierung verbindliches Recht dar. Diese Vorgaben bedeuten für den Lernort Schule die so bezeichnete Inklusion. Inklusion versteht alle Schülerinnen und Schüler als unterschiedlich und als Menschen mit besonderen Bedürfnissen, auf die Pädagogik, Schule und Unterricht reagieren müssen. Hiermit steht die gesamte Klasse im Fokus und nicht mehr die Maßnahme für einzelne behinderte Schülerinnen und Schüler. So gesehen bedeutet Inklusion eine konsequente Beachtung der Heterogenität von Kindern und Jugendlichen, ohne jemanden daraus auszuschließen. Im Blick auf behinderte Kinder wird nicht das Kind in eine passende Institution eingegliedert, sondern Ausstattung und Lernumgebung in der Regelklasse werden so angepasst, dass alle Kinder die notwendige individuelle Unterstützung erhalten. Somit sollen Kinder mit allen Förderschwerpunkten, also z.B. „Lernen“, „Sehen“, „Hören“, „Sprache“, „Körperliche und motorische Entwicklung“, „Geistige Entwicklung“ oder „Emotionale und soziale Entwicklung“ inkludiert werden.
Wenn im Folgenden Hinweise auf ein inklusives Geschichtslernen aufgezeigt werden, dann gelten diese nicht etwa nur oder gesondert für Lernende mit Behinderungen. Auch die Berücksichtigung der Gesamtheit der Heterogenität von Lerngruppen erfordert solche Entscheidungen und Maßnahmen.
Dabei liegt die besondere Herausforderung des Geschichtslernens vor allem darin, dass Lernende hier mit „Fremdheit“ in mehrfacher Hinsicht umgehen müssen; sie haben es mit Alterität in Hinsicht auf die Zeit wie auch auf den Ort, den Raum, zu tun. Das ergibt neue Berührungspunkte, wie sie im Leben und im Alltag häufig nicht vorkommen.
Inklusiver Geschichtsunterricht sollte nicht nur für, sondern mit den Zielgruppen gestaltet werden. Wenn Geschichtsunterricht der Orientierung in der Zeit dienen soll, so müssen Lernende auch Experten und Expertinnen ihrer individuellen Orientierungsbedürfnisse werden, ihre eigenen Fragen und Interessen entwickeln und einbringen.
Inklusiver Geschichtsunterricht braucht besonders viel Anschauungsmaterial sowie aktive Handlungsmöglichkeiten, um Vorstellungen von der Geschichte zu entwickeln und Begegnungen zwischen der Geschichte und ihren Menschen und dem lernenden Subjekt zu ermöglichen. Dazu gehören möglichst konkrete und sinnliche Erfahrungen, die für alle Lernenden hilfreich sind, wenn es darum geht, neues Wissen zu erwerben und es zu integrieren. Unterrichtsstoff sollte zunächst sprichwörtlich in den optischen (Verwendung von Bildmaterial!) und dann auch in den Erfahrungshorizont gelangen.
Inklusiver Geschichtsunterricht braucht unmittelbare Gelegenheiten für das Erzählen von Geschichte und das Versprachlichen von Gedanken durch die Lernenden. Nur mit eigenständigen narrativen Deutungen können Lernende zum Ausdruck bringen, was sie über Geschichte wissen und denken und wie sie das Gelernte für sich und ihre Gegenwart verarbeiten, denn erst mit einer Versprachlichung wird Sinnbildung nachhaltig betrieben. Dabei kann und soll es im inklusiven Geschichtsunterricht nicht um ein bestimmtes und schon gar nicht für alle gleiches Quantum an abrufbarem Wissen gehen, wohl aber um Deutung und Sinnbildung.
Auch und besonders inklusiver Geschichtsunterricht verhilft Lernenden zu einer Orientierung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, will Sinnbildung initiieren und damit das Geschichtsbewusstsein der Lernenden fördern.
Fragen können dabei hilfreich sein. Wie ist es zu heutigen Bedingungen und Problemen gekommen? Warum feiern wir bestimmte Anlässe? Wie sind Zusammenhänge aus dem Umfeld, der Region, zu verstehen? Auch das Anknüpfen an grundlegende Erfahrungen, die Lernende mitbringen, ist für historisches Lernen bedeutsam; hierzu zählen z.B. Erlebnisse und Erfahrungen von Macht und Ohnmacht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Erfolg und Misserfolg, Benachteiligung oder Teilnahme, Glück und Unglück ...
Inklusiver Geschichtsunterricht braucht eine gezielte Auswahl von Medien, die helfen, Lernprobleme zu mindern.
Hierzu gehören z.B. ein Zeitstrahl, überschaubares Kartenmaterial, sachlich korrektes Bildmaterial, verständliche Darstellungstexte und Quellen, erzählende Geschichten und Biographien.
Inklusiver Geschichtsunterricht braucht den individuellen Bedingungen angepasste Sozialformen, die individualisierende und kooperative Lernformen berücksichtigen, aber auch strukturierende Instruktionsphasen integrieren.
Inklusiver Geschichtsunterricht sollte Lehr- und Lernformen bevorzugen, die den individuellen Rhythmus, die Eigenaktivität und Eigenverantwortlichkeit der Lernenden unterstützen und herausfordern.
Inklusiver Geschichtsunterricht benötigt Material, das Geschichte in einer den Lernenden und ihren individuellen Möglichkeiten angepassten Komplexität und Sprache behandelt.
Die Anforderungen machen deutlich: Als Einzelkämpfer/in unterwegs zu sein, bedeutet zu verschleißen, hier sollten vielmehr gegenseitige Stärkung und Unterstützung, der Aufbau von Netzwerken, auch mit außerschulischen Partner/innen, aber auch Fort- und Weiterbildung angeboten und genutzt werden.
Die realen Bedingung in Lehr- und Lernsituationen sind zur Zeit und angesichts knapper Kassen, auf die von Verantwortlichen gern verwiesen wird, alles andere als angemessen. Hier müssen neue Ressourcen (Personal, Ausbildung, Räume, Organisationsformen ...) fließen!
In der Praxis wird es vor allem darauf ankommen, Heterogenität nicht als Stör-, sondern als Normalfall anzusehen, die Unterschiede zu nutzen, Defizitansätze zu überwinden und die Gemeinsamkeiten zu stärken.
Dieser Aufsatz ist in ähnlicher und erweiterter Form im Onlinehandbuch Inklusion als Menschenrecht nachzulesen und basiert auf dem Beitrag: Birgit Wenzel: Heterogenität und Inklusion - Binnendifferenzierung und Individualisierung In: Michele Barricelli/Martin Lücke (Hg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts. Historisches Lernen in der Schule, Schwalbach/Ts.: Wochenschau-Verlag (im Druck), erscheint 2011.