Am Sonntag, den 16. Oktober 2011 wandte sich der deutsche Bundespräsident Christian Wulff zu später Stunde an die Fernsehzuschauer. Er habe die Schirmherrschaft übernommen für ein neues Projekt namens „Das Gedächtnis der Nation“. Seine Entscheidung begründete der Bundespräsident mit den Worten: „Geschichte lebt durch Erinnerung. Sie wachzuhalten ist gerade in Deutschland eine Aufgabe von herausragender Bedeutung. Nichts macht Erinnerung für nachfolgende Generationen so lebendig wie Erinnerungen von Zeitzeugen. […] Das ist ein Projekt von nationalem Rang und insbesondere für Schulen und Universitäten sehr wertvoll.“ Vor dem Hintergrund der seit geraumer Zeit geführten Debatte um die Bedeutung von Zeitzeugeninterviews in der Bildungsarbeit mit künftigen Generationen darf man durchaus gespannt sein, was sich hinter dem neuen Projekt „Gedächtnis der Nation“ verbirgt und welche Ziele hiermit verfolgt werden.
„Das Gedächtnis der Nation“ ist eine Online-Datenbank für Zeitzeugeninterviews zur deutschen Geschichte. Träger des Projektes sind der öffentlich-rechtliche Fernsehsender ZDF und die Illustrierte Stern, die zusammen den gemeinnützigen Verein „Unsere Geschichte. Das Gedächtnis der Nation“ gegründet haben. Vorsitzende dieses Vereins sind der ZDF-Historiker Guido Knopp und der Chefredakteur des Sterns Hans-Ulrich Jörges. Das Webportal wird gefördert von Gruner + Jahr, der Robert Bosch Stiftung, Google, Bertelsmann und Daimler. Nach eigener Auskunft folgt das Webportal dem Vorbild der Shoah Foundation des US-amerikanischen Filmregisseurs Steven Spielberg, auf welchem rund 52.000 videografierte Erinnerungen von Überlebenden des Holocaust verfügbar sind.
Der Verein verfolgt mit seinem Webportal „Gedächtnis der Nation“ das Ziel, „Erinnerung für die Zukunft [zu] bewahren“ (ZDF-History vom 16.10.2011) und auf diese Weise „Erfahrungswerte für künftige Generationen“ (Trailer des Projektes) weiterzugeben. Um dieses Ziel zu erreichen, sollen in den kommenden Monaten tausende Zeitzeugeninterviews aus dem Archiv des ZDF der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Diesem „stillen Schatz“ (Guido Knopp) sollen zudem neu geführte Interviews zur Seite gestellt werden. Dazu fährt ein „Bus der Erinnerung“ durch Deutschland, in dem Gespräche mit Menschen aufgezeichnet werden, die ihre Geschichte für berichtenswürdig erachten. „Mithilfe der Interviews können wichtige Erinnerungen an künftige Generationen weitergegeben werden“ (ZDF History). Explizit streichen die Initiatoren also den Bildungsauftrag des Projekts für Schulen und Universitäten heraus.
Die gesammelten Interviews werden auf zweierlei Weise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Auf einem eigenen Youtube-Kanal können sowohl selbstgedrehte Interviewfilme eingereicht als auch bestehende Clips angeschaut werden. Die zweite Möglichkeit bietet das Webportal des Projektes.
Besucht man das Webportal „Gedächtnis der Nation“ wird man zunächst mit den eingangs zitierten Worten von Bundespräsident Wulff begrüßt. Klickt man dann auf „Zeitzeugenportal“ so hat man die Wahl zwischen drei Möglichkeiten der Navigation. Eine Suche kann über „Ereignisse“, „Themen“ und „Jahrhundertzeugen“ erfolgen. Unter „Ereignissen“, die ungewöhnlicherweise nicht nach den Epochen der Ereignisgeschichte, sondern in Dekaden geordnet sind, finden sich thematisch angeordnete Blöcke, die neben den Interviewclips flankierende historische Einführungen (zwischen 3-4 Min.) bereit stellen. Bevorzugt man die Suche nach konkreten Themen, so stehen hier zur Auswahl: „Zwei Staaten - eine Geschichte“, „der Holocaust“ sowie „Europa und die Welt“. Wer sich mit den Erzählungen von Personen des öffentlichen Lebens beschäftigen will, wählt die Rubrik „Jahrhundertzeugen“ mit 41 Prominenteninterviews.
Ist man zu den Zeitzeugeninterviews durchgedrungen, so eröffnet sich eine beeindruckende Fülle videographierter Interviews. Der zeitliche Rahmen der hier versammelten Erinnerungsgeneration beginnt mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und endet mit der Fußballweltmeisterschaft der Herren im Jahre 2006. Zu den interviewten Personen gehören politische Verantwortliche, Historiker, Verfolgte und Verantwortliche des NS-Regimes u.v.m. Die bislang online zugänglichen Videos haben in den Rubriken „Ereignisse“ und „Themen“ in der Regel eine Länge von wenigen Minuten (0:30 bis 4:00 Minuten), so dass sich die Berichte von einzelnen Zeitzeugen zerstückelt in verschiedenen Themenblöcken und Rubriken wieder finden. Nur den Jahrhundertzeugen werden Clips von bis zu einer Stunde gewährt, wodurch die Nutzer/innen überhaupt erst in der Lage sind, eine Vorstellung von der Person und von der Erzählung zu erhalten.
Die Strukturierung der Webseite ebenso wie die Zerstückelung der überwiegenden Mehrheit der Interviews lässt leicht auf den journalistischen Hintergrund der Initiatoren schließen, die Zeitzeugeninterviews in Form von knappen, kurzen Statements verwenden, um entweder die Aussagen der Autoren via der Macht des Zeitzeugen zu illustrieren bzw. zu untermauern oder, um sie als Stichwortgeber zur filmischen Überleitung einzusetzen. Für solche rein funktionalen Aufgaben sind die 3-Minuten-Clips des Portals hervorragend geeignet. Als Quellen, die im Rahmen der historisch-politischen Bildungsarbeit einen erfahrungsgeschichtlichen Zugang zur Geschichte eröffnen sollen, eignen sie sich jedoch nicht.
Der angesprochene Bildungsanspruch kann bislang nur reduziert umgesetzt und eingelöst werden, da nur wenige speziell aufbereitete Interviewausschnitte mit Unterrichtsanweisungen bereit stehen. In Zusammenarbeit mit dem Verband der Geschichtslehrer Deutschlands wurden bisher vier Themenvorschläge für den schulischen Unterricht erarbeitet. Die Themen lauten: Angriff auf die Sowjetunion, Währungsreform, die Ära Honecker und Opposition in der DDR. Am Beispiel der Unterrichtsanweisung für die Arbeit mit dem Interview zum deutschen Angriff auf die Sowjetunion wird ein grundlegendes Problem des Projektes „Gedächtnis der Nation“ deutlich. Die Schülerinnen und Schüler gelangen auf die Unterrichtseinheit und erhalten dort den Auftrag, sich sechs Interviewausschnitte, anzusehen. Im Anschluss daran sollen sie Fragen zu den Videos beantworten, um mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern über das Gesehene zu diskutieren. Im Falle des Interviews zum Thema des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion fällt allerdings auf, dass eine wichtige Kategorie für das historische Lernen, die Multiperspektivität, vollkommen ignoriert wird. In den sechs Interviewausschnitten kommt nur eine Stimme zu Wort, nämlich die eines deutschen Landsers, der über seine Erfahrungen im Krieg mit der Sowjetunion erzählt. Der Schwerpunkt seines Berichtes (bzw. der ausgewählten Videos) liegt auf dem militärischen Vorrücken und Zurückweichen der Wehrmacht und dem soldatischen Alltagsleben. Nicht thematisiert werden das von Deutschen verübte Leid der Zivilbevölkerung, die massenhafte Ermordung der Juden im Rücken der Front oder die systematische Vernichtung sowjetischer Kriegsgefangener. Man mag einwenden, dass dieser Mann nicht alles bezeugen kann. Aber warum stellt man ihm nicht weitere Zeitzeugen zur Seite, um auf diese Weise ein vielschichtiges Bild des deutschen Angriffs zu zeichnen?
Seit den 1980er Jahren sind eine Vielzahl von Zeitzeugenprojekten vorwiegend mit thematischen und/oder regionalen Bezügen nach den Methoden der Oral History durchgeführt worden. Viele dieser Zeitzeugensammlungen stehen mittlerweile als virtuelle Archive im Netz und sind entweder frei zugänglich oder durch Anmeldung nutzbar. In den letzten zehn Jahren wurde intensiv an Universitäten und Institutionen an einer sinnvollen Strukturierung und Architektur für diese Webarchive geforscht und gearbeitet, was mit einer ungeheuer zeit- und kostenaufwendigen Aufbereitung und Erschließung der Interviews einher geht ebenso wie mit der Bereitstellung ergänzender Materialien. Die Erarbeitung von Bildungskonzepten bzw. einer Didaktik der mündlichen Überlieferung (Henke-Bockschatz) sind ein ebenso wichtiger Bestandteil dieser Entwicklung, die im Zuge der bereits eingangs angesprochenen Debatte über die perspektivische Bedeutung der erfahrungsgeschichtlichen Quellen noch einmal mehr an Bedeutung gewonnen hat. All diese Erkenntnisse scheinen an den Baumeistern des neuen Portals „Das Gedächtnis der Nation“ seltsam vorbei gegangen zu sein, obwohl sie von namhaften Wissenschaftlern, Journalisten und Politikern, begleitet und von schillernden Unternehmen unterstützt werden. Für die Zukunft ist dem Portal daher, der Einstieg in einen fachlichen Austausch zu wünschen.
Die Freischaltung des „multimedialen Portals der Erinnerung“ wurde neben diversen Fernsehbeiträgen und Interviews mit den Initiatoren vom Start der neuen ZDF-History - Serie flankiert, die ebenfalls mit „Das Gedächtnis der Nation“ titelt. Mit der ersten Sendung wird das Projekt eingeführt, promoted und erläutert, um dann den Zuschauern das Narrativ „unserer Geschichte“ in diesem „furchtbaren wie faszinierenden Jahrhundert“ vorzustellen. Mächtig sind die Ansprüche, geht es doch darum, auf der Grundlage von Zeitzeugenberichten, deutsche Nationalgeschichte vom Beginn des ersten Weltkriegs bis heute zu erzählen, damit diese „wichtigen Erfahrungen an künftige Generationen weitergegeben werden können“.
Bereits an dieser Stelle drängen sich Fragen auf: Wie präsentiert sich das nationale Narrativ im öffentlich rechtlichen Sender ZDF? Wer sind die Erinnernden? Genauer gefragt: Wer repräsentiert mit welchen Ereignissen und persönlichen Erzählungen das Gedächtnis der Nation, diesen „Schatz“ an „unvergessenen Momenten“? Welche Momente sollen unvergessen sein? All diese Fragen stellen sich in besonderer Weise, wenn es um die Darstellung des Nationalsozialismus geht.
Nach sorgfältiger Analyse des Films muss die Antwort lauten, dass sich die hier anhand von Zeitzeugenberichten formierte Nationalgeschichte als Klassiker in den neuen deutschen Opferdiskurs einreiht, der sich, um mit Martin Sabrow zu sprechen „aus den Schranken einer aufklärerischen Vergangenheitsbewältigung gelöst“ hat und „von den Opfern der Deutschen zu den Deutschen als Opfern zurückgekehrt“ ist. Darüber hinaus zeigt sich in der Inszenierung ein neuartiges Phänomen, nämlich das Wetteifern mit den Erzählungen von Überlebenden des Holocaust, die es zu übertreffen gilt. Schlussendlich sind im Film die Erzählungen deutscher Juden nicht repräsentiert, obwohl sie im Zeitzeugenportal vorhanden sind, d.h. ihre Erinnerungen werden gleichsam aus dem Gedächtnis der Nation heraus definiert.
Wie sieht die filmische Inszenierung einer derart gestalteten Nationalgeschichte konkret aus?
Der Film stimmt mit einem Kurzaufriss auf die zentralen Ereignisse „dieses wechselvollen Jahrhunderts“ ein, die da sind: Januar 1933, Kriegserfahrung Dresden, die Vertreibung aus Ostpreußen, Wirtschaftswunder, geteiltes Deutschland im Kalten Krieg und last but not least „das Wunder von Berlin“, der Mauerfall. Da in der ersten Sequenz das Grundkonzept des gesamten Films wie auch die Inszenierung des nationalen Narratives deutlich wird, lohnt es sich, diese drei Minuten genauer zu analysieren.
In rascher Abfolge, mit abrupten Schnitten werden die Themen präsentiert. Historische Filmaufnahmen, die leider nicht mit Quellenangaben versehen sind, zeigen Adolf Hitler am Fenster, Bilder von Geschäften mit antisemitischen Schmierereien, im Hintergrund Jubelschreie, diffuser Lärm, O-Ton Hitler, dazwischen die Doku-Stimme: „Der Ausgangspunkt: Schlimmste Verbrechen an der Menschlichkeit“. Das Ganze untermauert durch zwei Zeitzeugen. Der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Hans Mayer, der mit „damals Köln“ für heutige Jugendliche wie für künftige Generationen wohl kaum hinreichend beschrieben sein dürfte, spricht den sachlich wie nüchtern vorgetragenen Satz: „Wir alle hatten gespürt, hier ist eine Wende. Aber niemand hat ahnen können, dass es der Schicksalstag des ganzen Jahrhunderts sein würde.“ Der österreichische Schriftsteller und Fernsehjournalist „Georg Stefan Troller, damals Wien“ sagt: „Das, was vorher doch von Staats wegen verpönt war, war auf einmal erlaubt. Es durfte alles gemacht werden, wir waren Freiwild geworden.“
Die filmische Inszenierung offenbart ein wüstes Konglomerat an Bild, Musik und Information, das mit visuellen und begrifflichen Stereotypen hantiert, ohne das historische Ereignis, welches den „Ausgangspunkt“ der nationalen Erzählung markieren soll, genau zu benennen. Die unausgesprochene Regieanweisung für den zeitgeschichtlich einigermaßen orientierten Zuschauer soll an dieser Stelle wohl lauten: Aha, es handelt sich hier wahrscheinlich um die Machtübernahme der NSDAP im Januar 1933, in deren Folge sogleich die antijüdische Verfolgung begann.
Ebenso nebulös bleiben die Zeitzeugen, beide Personen des öffentlichen Lebens, die diesen Teil des Gedächtnisses repräsentieren, nämlich die Anfänge eines sich als massenmörderisch entpuppenden antisemitischen Rassenwahns. Die Zuschauer erfahren nicht, dass es sich bei Hans Mayer um einen deutschen Juden und Marxisten handelt, der direkt 1933 Köln verlassen musste und vorübergehend in Genf Unterschlupf fand, wo er Schüler des ebenfalls verfolgten Staats- und Völkerrechtlers Hans Kelsen war. Noch vermittelt sich die Ambivalenz bzw. die Uneindeutigkeit des Satzes: „Wir alle hatten gespürt hier ist eine Wende.“ Das „wir“ bedeutet in der suggerierten Absicht der Filmemacher„wir Juden“, eine Zuschreibung, die im Fall von Hans Mayer nicht zwingend als solche zu interpretieren ist. Ebenso wahrscheinlich ist, dass sich der Marxist 1933 viel mehr auf die deutsche Linke, insbesondere linke Intellektuellen bezogen hat. Das „wir“ Georg Stefan Trollers hingegen, das ebenfalls selbsterklärend für sich steht, trifft eher die Intention der Drehbuchschreiber, da der 1921 Geborene - zum Zeitpunkt der Machtübernahme höchstens zwölf Jahre - sich als Jude zum „Freiwild“ erklärt und ausgesetzt sah.
Ganz anders gestalten sich im Film die nun folgenden Etappen der nationalen Geschichte. Die Ereignisse werden zum einen klar umrissen, zum anderen offenbart sich mit den Zeitzeuginnen, die über die Kriegserfahrung Dresden und vor allem über die Vertreibung aus Ostpreußen sprechen, ein ganz anderer Duktus, der auch unter Gender-Gesichtspunkten nicht uninteressant ist. Sprachen Mayer und Toller noch in je einem Satz rational und analytisch, so berichten die nun folgenden Frauen in kurzen aber vollständigen Interviewpassagen über das persönlich erlebte Leid und benennen die Gewalt und die Bedrohung, der sie ausgesetzt waren. Zudem schildert Hannelore Thiele unter Tränen das Trauma der Vertreibung aus Ostpreußen, das sie bis heute begleitet.
Die persönliche Tragik, das geschilderte Leid und deren Auswirkungen auf das gesamte Leben der Zeitzeuginnen stehen außer Zweifel und sind keinen Moment zu bewerten oder gar zu gewichten. Kritisch zu hinterfragen ist jedoch sehr wohl die Inszenierung und Dramaturgie. Wenn die Dimension der Ereignisse des 20. Jahrhunderts am persönlichen Leid der „einfachen Menschen“ geschildert werden soll, warum tauchen dann die Erfahrungen von Entrechtung, Vertreibung, Gettoisierung, Deportation und Massenmord nicht auf, die die Lebensgeschichten von deutschen Juden, von Roma und Sinti und von politisch Verfolgten prägen, also von all jenen, die nicht Teil der rassisch definierten Volksgemeinschaft waren? Offenbar scheuen die Filmemacher den Leid-Vergleich, in den sie zwangsläufig durch die historisch nahezu vollständig entkontextualisierte Darstellung hinein schlittern. Das so konstruierte Dilemma kann nur durch das radikale Streichen der Erinnerungen der ehemals Verfolgten des NS-Regimes, insbesondere der deutschen Juden gelöst werden.
Folgerichtig muss der Jahrhundertbus - der in den nächsten 40 Minuten fünf ausführliche Ereignisse des nationalen Gedächtnisses einsammelt – ins polnische Krakau fahren, um von einer Holocausterfahrung berichten zu können. „Von Licht und Schatten in dunkler Zeit“ erzählt das jüdische Ehepaar Birnhack, die beide aus Krakau stammen und den NS-Terror gegen die Krakauer Juden, das KZ Płaszów und den Terror eines Amon Göth erlebt haben, was sie mit je einem Satz schildern. Dann folgt die eigentliche Geschichte, die von ihrem Retter Oskar Schindler handelt und eine strahlende Geschichte des Überlebens ist.
Von Krakau geht es weiter mit dem Jahrhundertbus gen Norden in das Jahr 1945. Das Kriegsende wird von zwei Ereignissen markiert. Die ungeheuerlichen Erfahrungen der Schwestern Rosemarie und Ursula damals Resas, die am 30. Januar 1945 in Gdingen/Gdynia den Untergang der Wilhelm Gustloff auf dramatische Weise überlebten. Und die Bombardierung Dresdens am 13. Februar 1945, bei der Ingeborg Tung ihren damaligen Mann, den chinesischen Artist Otong verlor. Die Dresdener Erzählung bricht interessanterweise das gängige Knopp’sche NS-Darstellungs-Klischee, das die Verantwortlichkeit für die Durchsetzung des NS-Regimes mitsamt seiner radikal rassistischen Ideologie allein Hitler, bestenfalls noch einem Teil der NS-Elite zuschreibt, während das verführte Volk handlungsunfähig dem Rausch erliegt bzw. selbst zum Opfer wird. Nein, an dieser Stelle spricht die Doku-Stimme in aller Deutlichkeit von der „herrschenden Rassedoktrin“, ungeschminkt wird gezeigt, wie „arische“ Mitbürgerinnen und Mitbürger Frau Tung auf Grund ihrer Beziehung als „Ausländerhure“ erniedrigten. Zudem fließt mit dieser außergewöhnlichen Orchideen-Geschichte des Zirkus-Sarasani-Artisten Otong nun doch noch zumindest ansatzweise die Geschichte eines rassisch Verfolgten mit ein. Doch die Liebe, die durch die Standhaftigkeit Frau Tung’s „dem Rassewahn trotzt“, scheitert an den Bomben der Alliierten, womit der Film wieder zu seiner Grundlinie zurück findet.
In den beiden Ereignissen fällt die drastische Inszenierung der Katastrophen in Wort und Bild auf. Sowohl durch die Berichte der Zeitzeuginnen als auch anhand der typischen Knopp’schen Histotainment-Mischung aus historischem Filmmaterial und Spielfilmszenen offenbart sich ein Szenario des Grauens: die nahende Katastrophe, Enge, Hunger, Verzweiflung, äußerste Panik, der Überlebenskampf im Wasser, der in letzter Konsequenz auch das Wegdrücken von Schwächeren bedeutet, Wasserleichen von Kleinkindern, die mit dem Kopf nach unten in der Ostsee treiben, Bombenhagel, Feuersbrünste, Bilder von verkohlten Körpern, Leichenberge, Tod überall, vollkommene Zerstörung, Trümmerwüste Dresden, verzweifelte Suche nach den Angehörigen, mindestens 25.000 Tote, unter ihnen Otong. Für Frau Tung beginnt nun als alleinerziehende Mutter der Überlebenskampf, so die Doku-Stimme, „doch die Erinnerungen an den Feuersturm in Dresden werden niemals verblassen“. Mit diesem Statement entlässt uns der Film aus der NS-Zeit. Die beiden nun folgenden Nachkriegsereignisse thematisieren eine Ost-West-Liebesbeziehung zur Zeit des Mauerbaus und das glückliche Überleben eines Bergmanns beim tragischen Grubenunglück in Lengede im Oktober 1963. Damit ist der Erzählbogen des nationalen Gedächtnisses gespannt.
Das Prinzip der Personalisierung hat sich in der Geschichtsvermittlung in Ausstellungen, Texten Filmen und der historisch-politischen Bildung durchgesetzt. Den Ausgangspunkt dieses didaktisch-methodischen Erfolgsmodells bildeten Konzepte zur Vermittlung des Holocaust, mit denen Standards gesetzt wurden, ganz zentral die historische Kontextualisierung. Die Öffentlichkeit der persönlichen Erfahrungen von Holocaust-Überlebenden haben aber auch ikonographische Bilder und ebenso paradigmatische Redewendungen geprägt. Das von Guido Knopp kreierte nationale Narrativ zeichnet sich im Hinblick auf die NS-Geschichte, die deutlich überwiegt, vor allem durch die drastischen Schilderungen des deutschen Leids aus, die permanent in Bild und Sprache mit der Holocaust-Erzählung gleichzuziehen, ja sie zu übertreffen suchen. Der Versuch gelingt, da über 45 Minuten, „in denen sich persönliche Erlebnisse und Geschichte begegnen“ der Prämisse der konkurrierenden Leid-Negation „der Anderen“ gefolgt wird. Und so wird die Geschichte des nationalen Gedächtnisses im Wesentlichen von nicht-jüdischen deutschen Opfern erzählt.
Auf den Seiten der ZDF-Mediathek finden Sie den Beitrag von History.
Den Artikel von Prof. Dr. Martin Sabrow „Den zweiten Weltkrieg erinnern“ finden Sie auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung.