Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Gesellschaften verhandeln die jeweils gültigen Deutungen und Bezüge ihrer Geschichte im stetigen Fluss, dabei zeigen sich einige Narrative beständiger als andere. Dass Schule ein zentraler Ort ist, an dem die so legitimierten Sichtweisen auf die Genese der jetzigen Gesellschaft als kanonisches Wissen vermittelt werden, ist nicht neu. In der Schule hat der Geschichtsunterricht nicht zuletzt auch eine integrative Funktion. Historisches Lernen in der Schule hat zudem den Anspruch, den Zusammenhang zwischen Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive aufzuzeigen, zu erarbeiten und zu reflektieren. Zur Grundlage jeder Geschichtsdidaktik gehört schließlich, dass der Lebensweltbezug der Schüler und Schülerinnen in die Geschichtsvermittlung stärker einbezogen wird.
Vergegenwärtigen wir uns nun, dass Schulklassen heute immer häufiger als heterogen beschrieben werden. Vor allem ethnische, nationale, religiöse und soziale Kategorien werden zur Beschreibung der Hintergründe von Schülern und Schülerinnen angewendet. Dass diese Situation das historische Lernen in der Schule herausfordert, ist offensichtlich. Diese Zustandsbeschreibung wirft das Problem auf, dass Schüler und Schülerinnen von Haus aus vielfältige Geschichtsbezüge, historische Narrative und Deutungen mitbringen, die als Community-Identitäten im sozialen Gedächtnis kultiviert, aber bislang im schulischen Geschichtskanon nicht aufgenommen und reflektiert werden. Einwanderern und deren in Deutschland sozialisierten Kindern und Kindeskindern wird oft zugeschrieben, dass ihre Deutungen der neuesten deutschen Geschichte aufgrund ihrer spezifischen Situation in der Gesellschaft von gängigen Deutungen abwichen. Dies alles hat Folgen für das Geschichtslernen und für die historische Bewusstseinsbildung mit den damit verbundenen Zielen und Prozessen des Erinnerns und Aktualisierens, aber auch für den lebensweltlichen Bezug von schulischer Geschichtsvermittlung. Uni sono wird festgestellt, dass der schulische Geschichtsunterricht die heutige Gesellschaft noch zu wenig reflektiert. Um hier Abhilfe zu schaffen, entwickelt gerade die Geschichtsdidaktik vielfältige Anwendungsbeispiele und Konzepte, die auch unter dem Stichwort interkulturelle Öffnung des Geschichtsunterrichts bekannt geworden sind: Bei bestimmten bedeutungsträchtigen Themen wie Kreuzzüge, Judentum in Europa, Nation-Building in Europa oder Shoah sollen Schüler und Schülerinnen anhand besonders kontroverser Materialien (Multiperspektivität!) Perspektivenwechsel einüben, Ambivalenzen ertragen lernen und so das Fremde im Eigenen und andersherum wahrnehmen lernen.
Erst in den Anfängen steckt jedoch, wie gemeinsam erlebte Zeiten und Räume in die kollektive Erinnerungskultur des Geschichtsunterrichts einfließen können. Dabei bietet die jüngste Geschichte Deutschlands zahlreiche Anknüpfungspunkte: Fragestellungen zur wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und soziopolitischen Entwicklungen der Geschichte der BRD und der DDR können auf der Folie der Heterogenität der Gesellschaft behandelt werden. Der Themenblock Deutschland nach 1945 kann – auch was den zeitlichen Rahmen des Lebensweltbezugs der Schülerschaft angeht – als Beispiel für gemeinsam erlebte Geschichte von Einheimischen und Migrant/innen, respektive von Menschen mit unterschiedlichen transnationalen Bezügen und religiösen Überzeugungen gelten. Im Geschichtsunterricht haben die Migrationsbewegungen nach Deutschland zwar mittlerweile ihren Platz, werden jedoch kaum sozialhistorisch verortet, in die deutsche Geschichtsschreibung integriert und darüber hinaus sehr häufig aus einer heute als problematisch empfundenen Integrationssituation heraus thematisiert.
Am Beispiel der Geschichte von muslimischer Präsenz in Deutschland nach 1945 soll hier eine Lanze dafür gebrochen werden, wie Aspekte dieser Zeit im Geschichtsunterricht unter der Perspektive einer gemeinsamen Geschichte aufbereitet werden können – ohne hierdurch Muslime nur als Migranten zu beschreiben, andersherum unter Migranten lediglich muslimische Einwanderer zu verstehen. Auch geht es nicht um eine wohlmeinende Toleranz, die Muslimen eine gesonderte Stellung zuschreibt. In den Unterrichtsmaterialien auf www.1001-idee.eu (vor allem die Unterrichtseinheiten Muslime in Deutschland, Moscheebau und ihre Konflikte, Deutsch-türkischer HipHop, christlich-islamischer Dialog in Europa, muslimische Bestattung in Europa [Titel: In fremder Erde], Deutschsprachige Literatur von Migranten [Titel: Migrantenliteratur]) stehen zahlreiche Textquellen, Fotos, Audio- und Videomaterialien, Zeitzeugeninterviews, beispielhafte Fragestellungen und Arbeitsaufträge u.s.w. zur Verfügung. Anhand dieser Materialien können konkrete Fragestellungen zum soziales Leben von Muslimen, nach ihrer politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Partizipation, nach literarischen und anderen künstlerischen Betätigungen erarbeitet werden. Kontinuitäten, Brüche und Kontexte der Ausländer/innenbeschäftigung, von Einwanderungsmodalitäten, von Rassismus, von Nation-Building-Prozessen, der religiösen Pluralität und die rechtliche Stellung der Religionsgemeinschaften können hervorgehoben und zur Diskussion gestellt werden. Um aufzuzeigen wie Zugehörigkeiten und Ausschlüsse, politische und rechtliche Emanzipationen jeweils neu verhandelt werden und Deutungen sich wandeln können, bietet es sich an, die Stellung von unterschiedlichen Gruppen zu unterschiedlichen Zeiten (z.B. die erfolgreiche Emanzipation der Katholiken, die weitgehend erfolgreiche Emanzipation der Frauen, die gescheiterte Emanzipation der Juden, die mit Schwierigkeiten behaftete Emanzipation Homosexueller, die in den Kinderschuhen steckende Emanzipation der Muslime) in Beziehung zueinander zu setzen. So kann ein gesamtgesellschaftlicher Blick eingeübt werden, ohne sich in diejenigen Fallstricken zu verfangen, die daraus erwachsen, wenn bestimmte Gruppen und Entwicklungen wie Migration, Migranten, Muslime, Juden usw. separat für sich behandelt werden.
All dies bedeutet, alte Wege in der Deutung der neuesten Geschichte der eigenen Gesellschaft teilweise zu verlassen, bekannte Interpretationen zu hinterfragen, neue Akteure und Ereignisse in den Kanon aufzunehmen und so frische Bezüge herzustellen. Der integrativen Funktion des Geschichtsunterrichts kann so möglicherweise neuer Schwung verliehen werden.