Das Projekt "Deutsch-Polnische Lernorte" des Instituts für angewandte Geschichte e.V. in Frankfurt an der Oder will Schüler/innen anregen, lokale Geschichte im deutsch-polnischen Grenzraum zu erkunden. Ausgewählt wurden die untergegangene Altstadt von Küstrin/Kostrzyn, die jüdische Geschichte von Frankfurt/Słubice und das NS-Arbeitserziehungslager und Dorf Schwetig/Świecko. Unter Lernorten werden im Rahmen des Projektes solche Orte verstanden, die eine Geschichte zu erzählen haben, die es jedoch zu entdecken gilt. Ein Ort spricht nicht für sich – historische Spuren müssen erst entschlüsselt werden.
Studierende der Europa-Universität Viadrina haben Materialien erarbeitet, die es interessierten Jugendlichen ermöglichen sollen, eigenständig ihre Umgebung zu erkunden. Die entwickelten Materialien stellen den Lernenden Grundwissen, Fragen und Handlungsoptionen zur Seite und leiten so an, vor Ort Fragen an die Vergangenheit zu stellen. Dabei sind die Materialien so konzipiert, dass ein Pädagoge/eine Pädagogin die Orte selbstständig mit einer Gruppe Jugendlicher bearbeiten kann. Sie enthalten alle notwendigen inhaltlichen und praktischen Hintergrundinformationen zur Umsetzung der etwa dreistündigen Workshops. Auf den Seiten des Instituts stehen die Materialien kostenlos zum Download zur Verfügung. Sie liegen sowohl auf Deutsch als auch auf Polnisch vor, so dass die Erkundung ggf. auch mit einer deutsch-polnischen Gruppe durchgeführt werden kann.
Unter dem Titel "Pompeji für alle" wird in der zerstörten Altstadt und Festung von Kostrzyn/Küstrin mit eigenen Händen und Füßen erfahrbar, welche Folgen der Zweite Weltkrieg für die Gestalt vieler Städte hinterlassen hat. Das Besondere ist hier, dass die zerstörte Altstadt nach 1945 nicht wieder aufgebaut wurde. Stattdessen entschied sich die polnische Stadtverwaltung, die Überreste der auf der Festung befindlichen Altstadt abzutragen. Die Materialien bieten eine angeleitete Spurensuche in der Altstadt, sowie weiterführende Literatur- und technische Informationen für die Gruppenleitung.
Weitere Materialien zur jüdischen Geschichte der Stadt Frankfurt/Oder ermöglichen es den Teilnehmenden zu lernen, wie man Geschichte im Stadtraum nachspüren kann, wenn historische Plätze vernichtet worden sind. Wie kann man nahezu unsichtbare Spuren finden und deuten? Wie hat sich ein Ort über die Zeit verändert und woran lässt sich dieses heute nachvollziehen? Wie wird der Geschichte und der Menschen, die hier gelebt haben, gedacht, wie erinnern sich die heutigen Bewohner/innen daran? Diese und weitere Fragen sollen den Jugendlichen ermöglichen, sich der deutsch-jüdischen Geschichte in der heutigen Grenzstadt zu nähern.
Über die Materialien zum NS-Arbeitserziehungslager und Dorf Schwetig/Świecko lässt sich erfahren, wie sich in diesem kleinen Ort die Geschichten nationalsozialistischer Verfolgung, dem systematischen Einsatz von Zwangsarbeit, dem teilweise realisierten Bau der Autobahn von Berlin nach Warschau sowie des Untergangs und Neubeginns einer Dorfgemeinde bündeln. Das Besondere an diesem Ort ist die Überlagerung dieser verschiedenen Schichten sowie die Möglichkeit, die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg mikrogeschichtlich zu betrachten.
Die deutsch-polnischen Lernorte regen nicht nur an, Lokalgeschichte zu erkunden, sondern auch, die Bedeutung historischer Grenzen zu analysieren. Alle Orte zeichnet aus, dass 1945 ein fast vollständiger Bevölkerungsaustausch stattfand, der insbesondere die polnischen Bewohner vor die Herausforderung stellte, deutsche Geschichte zu erinnern bzw. dem Vergessen anheim zu geben. Durch ihre Verortung im deutsch-polnischen Grenzgebiet sollen die Lernorte schließlich auch dazu anregen, ein Stück deutsch-polnischer Nachbarschaftsgeschichte zu erforschen.