Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Seit 1981 bietet der Arbeitskreis Stadterkundungen (AKS) politisch-historische Stadtrundfahrten und Rundgänge für Jugendliche mit dem Schwerpunkt NS-Geschichte in Berlin an; zunächst im Rahmen des Landesjugendrings, seit 2008 unter dem Dach des Humanistischen Verbandes. Da es auch aus dem Grundschulbereich Anfragen nach Stadterkundungen gab, Rundgänge und Rundfahrten aber kein adäquates Angebot für diese Zielgruppe bilden, hat der AKS im Jahr 1999 ein Stadterkundungsspiel in der Spandauer Vorstadt in Berlin-Mitte konzipiert.
Dort sind viele Spuren des ehemals blühenden jüdischen Lebens sowie seiner Auslöschung durch den NS-Terror erhalten geblieben. Gleichzeitig befinden sich an vielen historischen Orten heute wieder diverse Einrichtungen der Jüdischen Gemeinde.
Diese einzigartige Situation bietet die Möglichkeit, in der Form eines Stadterkundungsspiels Kinder von 10-12 Jahren jüdische Geschichte und Gegenwart in Berlin entdecken zu lassen.
Spuren zu finden und zu deuten bildet den Inhalt des Stadterkundungsspiels. Dabei stehen die Themen jüdisches Leben damals und heute, jüdische Kultur und Religion, Judenverfolgung während der NS-Herrschaft, Judenretter (stille Helden) und Widerstand im Mittelpunkt.
In vier Gruppen eingeteilt erhalten die Kinder unterschiedliche Aufgaben. Mit Hilfe eines Stadtplanes suchen sie selbständig nach Gebäuden, Mahnmalen und Gedenktafeln, die eine Geschichte erzählen. Am Ende werden alle diese Geschichten im Rahmen einer gemeinsamen Auswertung zusammengetragen. Jede Gruppe stellt den Mitschüler/innen ihre Ergebnisse vor. Mit projizierten Fotos werden die Erzähl-Orte auch für jene veranschaulicht, die sie nicht selbst gesehen haben. Es bleibt Raum für Nachfragen und vertiefende Erläuterungen. Das Ganze dauert knapp drei Stunden, darin sind etwa 20 Minuten Pause enthalten.
Politisch-historische Stadterkundungen sind mit ihrem alltags- und lokalhistorischen Ansatz prädestiniert, gerade auch Kindern und Jugendliche einen effektiven Zugang zum Lernfeld Geschichte zu ermöglichen. Das gilt in besonderer Weise für die Form des Stadterkundungsspiels, bei dem die Teilnehmer selbst die Akteure sind. Durch seinen spielerischen Charakter bietet dieser Ansatz vor allem für Kinder im Alter unserer Zielgruppe einen idealen Zugang.
Durch den lokal- und alltagshistorischen Ansatz, die Exkursion zu den Stätten vor Ort sowie die Bezugnahme auf Einzelschicksale wird ein direkter und persönlicher Bezug der Schüler/innen zum Lerngegenstand hergestellt, der deren Aufmerksamkeit und Interesse stärkt. Das Begehen von Orten, an denen sich Geschichte ereignet hat, eröffnet eine Vielzahl zusätzlicher Aspekte, provoziert andere Fragestellungen und stellt eine größere Empathie her, die mit herkömmlichen Mitteln nicht erreichbar wäre.
Der lokalhistorische Ansatz nutzt zudem die menschliche Neigung, Geschehnisse, die räumlich näher liegen, auch emotional intensiver wahrzunehmen. Da die Teilnehmer/innen die räumliche Nähe zu ihrer eigenen Lebenswelt herstellen können, verliert die Geschichte an Distanz und wird für sie vorstellbarer. Die Konfrontation mit bekannten Orten aus einer oftmals unbekannten Perspektive fördert die Anschaulichkeit und Vorstellungskraft. Durch die Verknüpfung der Vermittlung historischer Fakten mit dem Schicksal einzelner Menschen können Ansätze eines Bewusstseins darüber geschaffen werden, dass der/die Einzelne über Möglichkeiten verfügt, Geschichte zu gestalten und nicht dazu verurteilt ist, ohnmächtig zuzusehen.So entstehen Elemente zur Förderung demokratischer Handlungsorientierung.
Wie mittlerweile durch empirische Studien belegt ist, haben Kinder historisches Wissen, gerade auch in Bezug auf die NS-Zeit, und denken auch bereits historisch. Dieses Wissen ist in der Regel zufällig und zusammenhanglos, aber es existiert. Damit sich diese unverarbeiteten Teilinformationen nicht zu Vorurteilen verfestigen und um den Prozess der historischen Orientierung von Kindern zu fördern, sollte dieses Thema bereits im Grundschulalter behandelt werden.
Bei der Thematisierung der Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung im Rahmen des Stadtspiels stellten wir bei vielen Kindern eine große Unsicherheit fest, was die Definition von Juden und ihre Einordnung in die deutsche Gesellschaft angeht (etwa die Frage: Kann ein Jude Deutscher sein?). Hinzu kommen auch bereits Stereotypen und Vorurteile über Juden (etwa: Juden sind reich), nicht nur, aber häufiger bei Kindern mit einem muslimischen Hintergrund. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass insgesamt in den Berliner Grundschulen, die sechs Schuljahre umfassen, der Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund sehr hoch ist. Er beträgt bei der Altersgruppe der 9-12 jährigen mittlerweile knapp 50 %, in bestimmten Stadtteilen werden 90% und mehr erreicht.
Nicht zuletzt aufgrund solcher Erfahrungen haben wir das Stadterkundungsspiel nicht allein auf die Shoah reduziert, sondern auf die deutsch-jüdische Geschichte seit dem 18. Jahrhundert.
Es geht darum, Wissen über Formen jüdischen Lebens zu vermitteln und den Alltag und die Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland vor 1933 und heute aufzuzeigen. Dass die jüdische Bevölkerung vor 1933 integraler Bestandteil der deutschen Gesellschaft und ebenso heterogen wie die übrige Bevölkerung war, bildet ein wichtiges Lernziel.
Das Anliegen dieses Stadterkundungsspiels ist es, Kindern einen Zugang zum Thema deutsch-jüdische Geschichte in altersgemäßer Form zu bieten. Deshalb kann nicht die umfassende Aufklärung über Fakten im Mittelpunkt dieses Angebots stehen, sondern vielmehr die Sensibilisierung für bestimmte Themen in diesem Zusammenhang. Dazu gehört, neben der Verfolgungsgeschichte im NS, Grundkenntnisse über Judentum, jüdische Religion, Kultur und Tradition zu vermitteln, um Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten zur eigenen Lebenswelt zu erkennen. Anhand der Speisegesetze und Ausrichtung der hebräischen Schrift können gerade auch die vielen Kinder muslimischer Herkunft Gemeinsamkeiten des Islam zum Judentum entdecken.
Übergeordnete pädagogische Ziele des Stadterkundungsspiels sind: Sensibilität für Minderheiten zu entwickeln und Unterdrückung, Verfolgung und Krieg als Auslöser für Not, Leid und Traurigkeit zu erkennen. Es ist wichtig, bereits Kindern Werte wie Toleranz und Empathie zu vermitteln. Wer früh lernt, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und Mitmenschen gleich welcher Herkunft akzeptiert, ist weniger anfällig für antisemitische oder rassistische Denkmuster. Die praktischen Erfahrungen bei der Durchführung der Stadtspiele sind ganz überwiegend positiv. Die Kinder setzen sich spielerisch und dennoch ernsthaft mit der Thematik auseinander.
In diesem Sinne leistet das Projekt einen wichtigen Beitrag zur Auseinandersetzung mit Grundfragen des menschlichen Zusammenlebens und für das Anbahnen von Wertorientierungen, die der Berliner Rahmenplan für die Grundschulen als Ziele grundlegender Bildung benennt.
Weitere Informationen: www.hvd-berlin.de/stadterkundungen