„Weil das Dritte Reich das Leben der Kinder so tiefgreifend gestaltet hat, sind sie auch besonders geeignete Subjekte für eine solche Geschichte. Ihre Fähigkeit, das Außerordentliche für normal zu halten, zeigt, wie tief der Nationalsozialismus in die Gesellschaft hineinreichte.“ (S. 31)
Nicholas Stargardts „Maikäfer flieg!“ ist eine Erzählung über das Leben von Menschen im Krieg. Assoziativ und fesselnd erzählt der australische Historiker Geschichten von Kindern und ihren Familien, die während des Zweiten Weltkrieges in verschiedenen Teilen Europas gelebt haben. Er löst dabei die lange vorherrschenden Kategorien von Opfern und Tätern auf, die im Handeln von Kindern sowieso schwieriger anzuwenden sind, als bei der Beurteilung von Erwachsenen. Die rund 150 erwähnten Kinder stehen dabei auf der einen Seite jeweils für einen Typ: Sie sind „der Hitlerjunge in Wuppertal“, „das polnische Mädchen aus dem Dorf“, „das deutsche Schulmädchen aus einer sozialistischen Familie“ und „der tschechisch-jüdische Junge in Theresienstadt“. Auf der anderen Seite sind ihre Geschichten und ihre Rollen in dem Buch jeweils sehr individuell. Sie tragen Namen, da „einen Namen zu haben […] eine der grundlegenden Formen persönlicher Identität“ ist (S. 7), und gewähren in den Zeugnissen, die sie hinterlassen haben, einen zutiefst persönlichen Einblick in ihr Leben während des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges.
Stargardt hat für das vorliegende Buch über ein Jahrzehnt hinweg zeitgenössische Quellen von Kindern gesammelt und ausgewertet und ihnen den Vorzug gegeben gegenüber retrospektiv verfassten Erinnerungen an die eigene Kindheit. Auf diese Weise gelingt es ihm, die Erfahrungen und Gefühle der Zeit erschließen zu können, ohne sie durch den Filter der Denkmuster der Nachkriegsjahrzehnte und der Verzerrungen durch die Erinnerung betrachten zu müssen. Er wertete Schularbeiten von Kindern, Briefe aus Lagern, aus Erziehungsheimen und an Väter an die Front, Tagebücher von Jugendlichen, Kinderzeichnungen sowie Berichte von Erwachsenen über Kinderspiele aus und fordert auf diese Weise, „noch einmal in Frage [zu] stellen, was wir zu wissen glauben“ (S. 30).
Es gelingt ihm, ein facettenreiches Bild zu zeichnen, das schockierende, berührende, absurde Schlaglichter auf die Normalität des Krieges wirft. Stargardt zeigt beispielsweise wie Kinder sich an die Gegebenheiten des Krieges anpassten, wie dieses Beispiel aus dem Wilnaer Ghetto verdeutlicht:
„Nachdem die Kinder im Wilnaer Ghetto die Bedeutung von Wörtern wie „Aktion“, „Todestransport, „Nazi“, „SS-Mann“, „Bunker“ und „Partisan“ gelernt hatten, fingen sie an, sie in ihre Spiele einzubauen. Sie spielten „Aktionen“, „Bunker sprengen“, „abschlachten“ und „den Toten die Kleider rauben“. Das Ghetto war dann Schauplatz dieses seltsamen Versteckspiels, das für Yitskhoks Onkel und so viele Kinder gerade Wirklichkeit geworden war. Das Spiel begann damit, daß alle Türen und Ausgänge zum verlassenen Innenhof gesperrt wurden. Die Kinder wurden sodann in Juden, die sich unter Stühlen, Tischen, in Fässern und Mülleimern verstecken mußten, und litauische Polizisten sowie Deutsche, die sie suchten, unterteilt.“ (S. 209f)
Diese Kinder hatten den Krieg in einer sorglosen Distanz in ihre Spiele integriert. Auf eine ganz andere Weise erlebte ein 16-jähriger Junge in Hamburg den Krieg, in dessen Logik er sich – aus Überzeugung oder Notwendigkeit bleibt unklar – einfügte.
„In der Nacht vom 29. auf den 30. Juli kehrte die RAF wieder nach Hamburg zurück und tötete weitere 9666 Einwohner. In dieser Nacht benötigte Klaus keine Kerze, um seiner Mutter zu schreiben, da sein Papier vom Schein der „Feuerwalzen“ beleuchtet wurde. Am 31. Juli hatte Klaus Zeit, sich zu vergewissern, daß die Wohnung seiner Mutter verschont geblieben war, und ihre Wertgegenstände sowie die der Nachbarn in den Keller zu bringen. Es schien, als ob seine Ausbildung im nationalsozialistischen Elternhaus, in der Schule, in der HJ und bei der Flak die Vorbereitung auf genau diesen Moment gewesen sei. Er erklärte, nicht zu verstehen, warum die Nachbarn weggehen wollten, und folgerte mit kühler Logik, daß es jetzt, da alles rundherum zerstört war, um den Wohnblock eine Feuerschneise gebe, die mehr Sicherheit biete als zuvor.“
(S. 277)
Da Stargardt sein Quellenmaterial mithilfe von Literatur umfangreich kontextualisiert, ist sein Buch gleichzeitig eine Geschichte des Zweiten Weltkrieges, die die großen Ereignisse der Politik und militärischen Geschehnisse nicht ausspart. Die Berichte der Kinder, teilweise auch von Erwachsenen machen aus „Maikäfer flieg!“ jedoch eine Alltagsgeschichte des Zweiten Weltkriegs. Stargardt zeigt auf, wie die Menschen in Deutschland auf den Ausbruch des Krieges reagierten, wie sie in unterschiedlichen Ländern ihren Alltag im Krieg organisierten, wie Schule funktionierte und Familienleben sich veränderte. Die Kinderperspektive – oder wie Stargardt es formulierte: „Geschichte aus dem Blickwinkel eines Kindes zu schreiben“ (S. 449) – kann dabei als gelungener Zugang interpretiert werden, eine Kultur- oder Alltagsgeschichte des Zweiten Weltkrieges zu zeichnen. Dies mag zwar keine neuen geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisse hervorbringen, Stargardt gelingt es jedoch sehr anschaulich und facettenreich zu illustrieren, was ein zunächst abstrakter Begriff wie der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg tatsächlich für das Leben der Menschen bedeutet hat.
In seiner Mosaikhaftigkeit liegt jedoch die Schwäche des Buches. Wer eine systematische Historiographie über Kinder im Zweiten Weltkrieg erwartet, wird enttäuscht werden. Die dürftige Struktur untergliedert das Buch in die Kapitel „Die Heimatfront, „Der Rassenkrieg“, „Der Krieg kehrt heim“ sowie „Danach“ und gibt mit Deutschland sowie Mittel- und Osteuropa den geographischen Rahmen, mit dem Beginn des Krieges 1939 und den unmittelbaren Nachkriegsgeschehnissen 1945-1947 den zeitlichen Rahmen der großen Ereignisse vor. Innerhalb dieses Rahmens muss der Leser und die Leserin sich alleine zurecht finden. Die fehlende Systematik und das Erzählende des Buches haben den Vorteil, dass man an jeder Stelle einsteigen kann und das Buch trotz seines großen Umfangs von 452 Seiten plus rund 80 Seiten Anmerkungen fesselnd und leicht zu lesen ist. Aus einer historiographischen Perspektive wäre eine Systematisierung der zahlreichen Quellen mit den Kinderberichten wünschenswert gewesen. Dieser Umstand ist jedoch dem bewusst erzählenden Charakter des Buches geschuldet und muss nicht als Mangel bewertet werden. Unglücklicher erscheinen irritierende Wortausrutscher wie die Verwendung der Ausdrücke „Tschechei“ und „Reichskristallnacht“. Doch Stargardt bläht sein Buch zudem unnötig auf, indem er nicht auf die reichen Erzählungen der Kinder fokussiert, sondern ihre Geschichten durch meist umfangreiche historische Kontextualisierungen und seitenlange Berichte der Erfahrungen von Erwachsenen ergänzt. Eine Konzentration auf die Kinderperspektive hätte einen Mehrwert für die Publikation bedeutet, indem es dem spannenden Quellenmaterial einen breiteren Raum zugestanden und so die Erzählungen dichter gemacht hätte.
Trotz dieser Einschränkungen ist „Maikäfer flieg!“ eine spannende und kenntnisreich geschriebene Erzählung darüber, wie Kinder und damit auch ihre Familien den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg erlebt haben. In der Bildungsarbeit bietet das Buch auf der einen Seite für Pädagoginnen und Pädagogen wertvolles Hintergrundwissen und die Möglichkeit einer Bewusstseinsschärfung für die vielfältige Thematik. Die zahlreichen zitierten Zeugnisse, die anschauliche Erzählung der Geschichten der Kinder und der Bildteil mit ausgewählten Kinderzeichnungen und Fotos als Ergänzung zu den schriftlichen Zeugnissen machen auf der anderen Seite „Maikäfer flieg!“ auch zu einer inhalts- und materialreichen Sammlung für die Bildungsarbeit.