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„Morgen kommt der Weihnachtsmann,
kommt mit seinen Gaben:
Trommeln, Pfeifen und Gewehr,
Fahn´ und Säbel und noch mehr,
ja ein ganzes Kriegesheer
möcht´ ich gerne haben.“
Das war wohl das beliebteste Vorweihnachtslied der Kinder schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg. Und sehr viele bekamen, was sie sich wünschten, unter den Christbaum gelegt. Jeder, der sich mit der Geschichte des „Dritten Reiches“ befasst hat, weiß, dass das NS-Regime alles getan hat, um die Bevölkerung auf den geplanten Krieg vorzubereiten, obzwar zunächst getarnt hinter einer Fassade von Friedensbeteuerungen. Jeder weiß, dass in Schule und Hitlerjugend „Wehrertüchtigung“ und Heldenverehrung ganz groß geschrieben wurden und dass die offizielle Propaganda in Filmen, Zeitungen, Radio und Büchern ganz auf Kampf und Heldentum eingestimmt war. Aber die Begeisterung für Kriegsspiele und Kriegshelden reicht viel weiter zurück; speziell in Deutschland gab es eine lange militärische Tradition, die das NS-Regime bruchlos weiterführen konnte und die dann im Krieg auf die Spitze getrieben wurde. Wir lassen hier Schule, Hitlerjugend und Propaganda außer Acht, müssen aber das ganze öffentliche Klima bei unserer Betrachtung mit in Rechnung stellen.
Kriegsspiele und Enthusiasmus für den Krieg begannen schon im Kleinkindalter in der Familie. Wer Feldpostbriefe liest, der ist entsetzt, wie da dem Vater im Feld fröhlich erzählt wird, wie die Kinder zum Spaß Bomben schmeißen, sich um die Kanone unter dem Christbaum streiten, mit allen möglichen selbst gebastelten „Schießgewehren“ auf die Feinde zielen, wie sie mit erbeuteten Mützen aus Frankreich auf ihren Dreirädchen herumfahren und lauthals schmettern: „Wir fahren gegen Engeland“!
In Fotos aus dem Kindergarten posieren die Dreikäsehoch mit Zeitungshelmen und Stöcken als Gewehren stolz neben der freundlichen Gemeindeschwester. Mädchen bekamen Schwesternhäubchen für die Pflege von Verwundeten. Sie stehen bei diesem Thema im Hintergrund, weil sie weniger martialisch waren und auf keinen Fall „Flintenweiber“ sein wollten, wie die sowjetischen Soldatinnen verächtlich genannt wurden. Die Gleichberechtigung war damals noch kein Thema, schon gar nicht auf diesem Gebiet. Auf Kinderzeichnungen sieht man oft marschierende Soldaten oder bombenwerfende Flugzeuge.
Eine ungeheure Anziehungskraft hatten Uniformen. Beinahe jeder Junge wünschte sich nichts sehnlicher, als selbst eine zu haben und selbst möglichst schnell Soldat zu werden, so wie der Vater.
Der Vater war die Identifikationsfigur. Sein Bild hing an exponierter Stelle im Wohnzimmer oder stand auf dem Büffet, natürlich in Uniform. Er war dem Alltag und seinen Reibereien entrückt und eine Idealgestalt, fast eine Ikone. So wollte man auch werden. Ein Uniformierter hatte einen über alle Zivilisten erhabenen Status, er genoss überall Respekt, wenn er auf Urlaub kam. Wenn er dann noch einen Orden trug, ein Eisernes Kreuz oder gar ein Ritterkreuz, war er schlechthin der Held. Besonders auf den Dörfern oder in Kleinstädten, wo man einander kannte, gewann die ganze Familie an Prestige. Kein größeres Glück als Vaters Seitengewehr anlegen oder sogar probeweise seinen Soldatenrock anziehen zu dürfen.
Gustav B.: „Gern entwendete ich gelegentlich das Seitengewehr meines Vaters, wenn er im Urlaub war, legte es mit einem Gürtel an, zog einen Kittel oder Pullover darüber und gab bei meinen Freunden damit an, indem ich es kurz zeigte. Das Seitengewehr war eine Art Dolch, den man auf das Gewehr pflanzte.“
Die Jungen faszinierte besonders auch das Technische: Sie kannten die verschiedenen Flugzeugtypen.
So z.B. Adrian S.: „Man musste wissen, wie die über den Himmel sausenden Flugzeuge der Luftwaffe hießen, die Messerschmitts, Heinkels, Dorniers und Junkers, und auch, was sie von einer Spitfire, Thunderbolt oder Hurricane unterschied.“
Sie verfolgten mit Fähnchen den Kriegsverlauf, sie bastelten die Orden nach und spielten Ordensverleihung.
Johannes S.: „Wir kannten die Orden der deutschen Wehrmacht allesamt auswendig, wir wussten, wofür es die gab, wer sie bekam und wie viele es da schon gab. Vor allem hatte ich einen Onkel aus meines Vaters Seite, der hatte das Ritterkreuz bekommen.“
Helmut B.: „Unerhörtes Aufsehen erregte ich bei ´de Buwe uff de Gass` durch Karl, einen der letzten Lehrlinge von Großvater im Krieg. Er schnitt mir, aus purer Freundschaft, aus einem dicken Stück Walzblei ein Ritterkreuz, Maßstab 1:1, malte es naturgetreu schwarz und weiß aus und hängte es mir an einer schwarzen Kordel um den Hals. Sofort bettelten alle Buben, es auch tragen zu dürfen. Der salomonische Wolfgang erfand ein Spiel: ´Ritterkreuzverleihung`. Jeden Nachmittag durfte sich ein anderer Held das Kreuz verleihen lassen... Wir spielten es mit beträchtlichem rituellen Aufwand, den wir aus den Wochenschauen kannten und so gut wir konnten nachspielten.“
Ihre Idole waren nicht Pop- oder Rockstars oder Fußballhelden, ihre Idole waren die Ritterkreuzträger, wie der Jagdflieger Galland, der Stukaflieger Rudel, der Gebirgsjäger Dietl, der Generalfeldmarschall des Afrikakorps Rommel oder der U-Boot-Kommandant Prien. Wer gar ein Autogramm ergattern konnte, war König. Die Bilder dieser Männer hingen in ihren Zimmern. Später begann dann der Modellbau von Flugzeugen, Schiffen und Panzern.
Und sie spielten den Krieg buchstäblich nach:
Uwe J.: „Der Nachbarjunge (der schon bei den Pimpfen war) fand in uns dankbare Mitspieler, die begierig darauf hörten, was er heute mit uns machen wollte. Die eine Hälfte waren dann die deutschen Soldaten, die andere der Feind. Keiner wollte gerne Feind sein, sondern lieber bei den Gewinnern, bei den deutschen Soldaten, bei den Helden. Er bestimmte, wer bei welcher Hälfte sein durfte. Klar doch, die Schwachen waren halt immer die Feinde...Der bewusste ältere Spielkamerad von der Hitlerjugend brachte so eine Art Comics mit. Das waren Bildergeschichten, wo die deutschen Soldaten immer die Helden waren und die Russen, immer als Bolschewiken bezeichnet, ganz furchtbar hässlich aussahen, dumm und mordlüstern dargestellt waren. Die Deutschen, egal ob Flieger, Fußsoldaten oder Seeleute, sahen alle blendend aus, waren ungeheuer tapfer und starben, wenn überhaupt, einen heldenhaften Tod. Abends lag ich so manchmal ganz verdreht in meinem Bett und stellte mir vor, durch einen feindlichen Angriff ums Leben gekommen zu sein.“
Die Spiele konnten auch recht gefährlich werden, wenn die Kinder an echte Munition oder gar an Waffen herankamen. Das war aber nicht die Regel.
Welcher Junge wollte nicht ein Siegertyp sein? Was war das Faszinierende an diesen Spielen? Neben dem ausgeprägten technischen Interesse, der Verlockung des Gefährlichen, des Spiels mit dem Feuer, der Rauflust und den alten Bandenrivalitäten, die schon immer mit brachialer Gewalt und List ausgetragen wurden und die es auch in Friedenszeiten gab? Alles, was schon von jeher zu einem normalen Jungenleben gehörte, erfuhr eine Überhöhung auf das soldatische Heldentum hin, dem diese Jungen nacheiferten. Jetzt ging es aber um den realen Krieg und schließlich auch um Tod und Leben.
Das überaus Erstaunliche ist nun, dass selbst Kinder in bombenbedrohten Städten weiter Krieg gespielt haben. Sie führten gleichsam ein Doppelleben: Während der Angriffe zitterten und bangten sie im Luftschutzkeller oder im Bunker, nach den Angriffen tauschten sie Granat- und Bombensplitter, die z.T. noch heiß waren. Kinder sind offenbar fähig, sich auf die jeweilige Gegenwart ganz und gar einzustellen und – wenn ihre elementaren Lebensbedürfnisse erfüllt sind – Schlimmes zu vergessen oder zu verdrängen.
Nur wenn der Tod in das unmittelbare eigene Leben einschlug, wenn der Vater fiel oder man ausgebombt oder gar verletzt war, eigene Angehörige oder nahe Freunde verloren hatte, hörte der Spaß auf, obwohl die ganz Kleinen das auch noch nicht richtig verstanden, die größeren aber schon. Und am Ende des Krieges mussten noch viele als Kindersoldaten den Preis für das Heldentum bezahlen, nicht wenige mit ihrem Leben. Wir kennen ihre genaue Zahl nicht. Im Rückblick verharmlosen die Kinder ihre Spiele von damals nicht mehr, denn sie wissen jetzt, was Krieg ist und was er anrichtet. Im Rückblick auf ihr Leben ertönt unisono ihre warnende Stimme: „Nie wieder Krieg“!
Das zwingt uns zu einer nochmaligen Rückfrage an die militärische Tradition: Fast unerklärlich ist, dass die Väter, die noch den Ersten Weltkrieg erlebt hatten und vor allem die Großväter, so gut wie nichts von seinen wahren Schrecken erzählt haben, sondern diesen Krieg in der Rückschau sogar glorifizierten. Und sie waren in ihrer Mehrzahl nicht bereit, die Niederlage „im Felde“ zuzugeben, hatten sich von der Heimat verraten gefühlt, an die „Dolchstoßlegende“ geglaubt und wollten die Niederlage rückgängig machen. Ihr Schweigen und diese Mystifizierung haben zum Mindesten dazu beigetragen, dass der Zweite Weltkrieg möglich wurde. Dazu trugen auch die Großmütter und Mütter bei, die zwar unter dem Krieg und unter der Trennung litten, die im Ersten Weltkrieg schon Söhne und Männer verloren hatten, und die dennoch ihre „tapferen Helden“ liebten, keine Drückeberger als Männer und Söhne haben wollten, ihren Kindern weiter Kriegsspielzeug schenkten und sie Krieg spielen ließen.
Die damaligen Kinder aber haben die totale Niederlage der stolzen deutschen Wehrmacht erlebt und die vollständige Besetzung Deutschlands. Ihnen gingen die Augen auf, nicht nur über die Wirklichkeit des Krieges, sondern auch über die schrecklichen Verbrechen in diesem deutschen Vernichtungskrieg. Sie hatten erfahren, dass Krieg kein Kinderspiel ist.
Deshalb wollen die damaligen Kriegskinder, die heutigen Groß- und Urgroßeltern, es besser machen und ihre Kinder, Enkel und die Nachgeborenen warnen.
Alle Aussagen und Zitate stammen aus: Margarete Dörr: „´Der Krieg hat uns geprägt.` Wie Kinder den Zweiten Weltkrieg erlebten“, 2 Bände, Frankfurt 2007.