Klaus Zierer, Mitarbeiter am Lehrstuhl für Grundschulpädagogik und -didaktik der LMU München, geht in seiner Studie der Frage nach, ob Kinder Moral lernen können. Um es gleich vorwegzunehmen: ja, sie können. Zierer betrat mit seiner Studie 2004/2005 empirisches Neuland. Bis dato gab es zur Frage der Moralerziehung lediglich Untersuchungen für die Sekundarstufe, nicht jedoch zur Grundschule. Die vorliegende Monografie gliedert sich in zwei Teile. Zunächst stellt Zierer die theoretischen Grundlagen des Morallernens nach Lawrence Kohlberg und Georg Lind vor. Die Darstellung der Dilemma-Diskussion bildet dann die Überleitung zu seiner empirischen Untersuchung in zwei bayrischen Grundschulklassen.
Bevor der Autor seine Forschungsergebnisse erläutert, klärt er jedoch zentrale Begriffe und theoretische Zugänge. Es liegt nahe, mit dem Terminus der Moral zu beginnen, den der Autor sehr breit definiert als „jene Werte und Normen, die in einem bestimmten Gesellschaftssystem als allgemein verbindlich und damit auch als verlässlich eingehalten gelten“ (S. 12). Moral betrifft das Leben eines jeden Menschen und ist seit jeher Gegenstand wissenschaftlicher Überlegungen. Für Kinder äußert sich das Thema Moral im Alltag in Fragen wie „Was ist richtig und was falsch“ oder „Was ist gut und was böse“. Kinder werden also schon früh mit grundlegenden Fragen konfrontiert, die sie nach moralischen Kriterien beurteilen müssen. Zierers Studie geht nun der Frage nach, auf welche Weise Moral gelehrt werden kann. Dabei geht er in Anlehnung an Georg Lind davon aus, dass „moralisches Verhalten von der moralischen Urteilsfähigkeit abhängt“ und letztere „durch Interventionen gefördert werden kann“ (S. 11).
In seinen zahlreichen Arbeiten zur Moral untersuchte Lawrence Kohlberg die Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit, die er definiert als „das Vermögen, Entscheidungen und Urteile zu treffen, die moralisch sind, das heißt, auf inneren Prinzipien beruhen und in Übereinstimmung mit diesen Urteilen zu handeln“ (zit. auf S. 16). Nach Meinung von Kohlberg lässt sich diese Urteilsfähigkeit am besten in moralischen Dilemmata, also in „Konflikten zwischen zwei moralischen Normen“ (S. 17) erlernen. Natürlich verfügen Kinder über andere Maßstäbe moralischen Handelns als Erwachsene; entscheidend ist für Zierer an dieser Stelle, dass Kinder überhaupt Maßstäbe haben. Wie diese aussehen und wie sie miteinander im Verhältnis stehen, ist Gegenstand der Untersuchungen von Georg Lind. Er entwickelte einen Gruppentest, den sogenannten Moralischen Urteilstest (kurz MUT), mit dessen Hilfe die Konsistenz moralischer Entscheidungen erforscht werden kann. Für Lind bedeutet Moral mehr als nur ein Gemenge von Normen und Werten. Er betont vielmehr die kognitive „Fähigkeit, in Bezug auf die eigenen moralischen Ideale konsistent und in Bezug auf die jeweilige Situation angemessen (differenziert) zu urteilen und zu handeln“ (zit. auf S. 25). Welche Konsequenzen ergeben sich aus dieser Schlussfolgerung für die Moralerziehung? Folgt man dem Lind'schen Ansatz, so reicht es nicht aus, jungen Menschen einfach moralische Werte beizubringen und zu hoffen, dass sie von allen befolgt werden. Stattdessen müsse die moralische Erziehung dazu befähigen, „eigene Argumente zu formulieren und zu begründen, Motive zu vergleichen und zu billigen oder zu verwerfen, Meinungen zu reflektieren und gegebenenfalls zu revidieren sowie moralische Dilemmata zu erkennen“ (S. 26).
Zierers Studie schließt an letztgenanntem Punkt an und widmet sich dem Thema der so genannten Dilemma-Diskussion. Wenn man davon ausgeht, dass moralische Entscheidungen Konflikte mit sich bringen, entstehen daraus Dilemmata. Gerade in solchen Situationen sei moralische Urteilsfähigkeit gefordert, so Lind. In Form von Dilemma-Diskussionen sollen sich Schüler/innen darin üben, moralisch zu urteilen. Nicht gefordert ist ein Konsens über eine vermeintlich richtige Lösung (Lesen Sie hierzu bitte auch den Beitrag von Dorothee Ahlers über die Konstanzer Methode).
Im letzten Teil seines Buches stellt Zierer die Ergebnisse seiner empirischen Untersuchung in zwei Grundschulklassen vor. Diese bestanden aus 9jährigen Schülerinnen und Schülern mit deutscher Staatsangehörigkeit und überwiegend römisch-katholischer Konfession (S. 33). In Anlehnung an Georg Linds MUT entwarf Zierer einen grundschulgerechten Test, in dem den Kindern ein semi-reales Dilemma vorgestellt wird, zu dem sie sich positionieren mussten. Zierer kommt zu dem Schluss, dass sich die „moralische Urteilsfähigkeit […] bereits im Grundschulalter mithilfe von Dilemma-Diskussionen fördern“ lässt (S. 54). Die beteiligten Kinder äußerten sich nach der Untersuchung überwiegend positiv zur Methode, was Zierer u.a. darauf zurückführt, dass das Dilemma ein Problem aus dem Erfahrungsbereich der Kinder darstellte. Auch die Möglichkeit, sich eigenständig mit einer moralischen Zwickmühle zu beschäftigen, habe auf die Kinder motivierend gewirkt, so der Autor.
Klaus Zierer hat eine Studie verfasst, die Lehrerinnen und Lehrer dazu ermutigen will, Moralerziehung mithilfe von Dilemma-Diskussionen zu wagen. Im Anhang des Buches finden sich dazu ausführliche und praxisnahe Anregungen. Einziger, auch vom Autor erkannter, Wermutstropfen ist die Frage, wie aussagekräftig seine Studie in der Breite ist. Deshalb wäre es wünschenswert, wenn Zierers Vorschlag zahlreiche Nachahmer und Fortführer fände, die vergleichbare Untersuchungen auch in Grundschulklassen mit anderen Zusammensetzungen erforschten.