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Dass die schulische und außerschulische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus und dem Massenmord an den europäischen Juden und anderen Bevölkerungsgruppen nicht nur auf das bloße Lernen historischer Daten, Hintergründe und Zusammenhänge zielt, scheint unmittelbar einleuchtend. Mündigkeit, Autonomie und Urteilsbildung gehören zu den konstitutiven Aufgabenstellungen und Zielsetzungen moderner Pädagogik, die seit und mit Theodor W. Adornos berühmtem Vortrag „Erziehung nach Auschwitz“ auch für den pädagogischen Umgang mit der NS-Geschichte in Geltung sind. Es gehört zum erinnerungspädagogischen common sense, dass es im Geschichtsunterricht oder in Führungen an Erinnerungs- und Gedenkorten immer auch darum gehe, die Schüler/innen bzw. Teilnehmer/innen pädagogisch so anzusprechen, dass die moralische Verurteilung der nationalsozialistischen Ausschließungen, Deportationen und Morde als Verbrechen gegen die Menschlichkeit als eigenständiges Urteil selbst mit vollzogen wird, dass also das Lernen aus der Geschichte auch die historisch-moralische Urteilsbildung der Lernenden erreicht. Lernen im Themenfeld Nationalsozialismus und Holocaust müsse in diesem Sinne immer historisches und moralisches Lernen sein. Während sich historisches Lernen an der Leitfrage „Was ist unter welchen Voraussetzungen wie und warum geschehen?“ orientiert, ist moralischem Lernen die Frage unterlegt „Wie beurteile ich das historische Geschehen auf der Folie moralischer Kriterien wie Schuld, Verantwortung und Achtung und mit Blick auf mögliche moralische Konflikte in der Gegenwart?“.
Geschichtsdidaktisch wird diese Doppelbestimmung der Erinnerungspädagogik als historisches und als moralisches Lernen ambivalent diskutiert. Einerseits warnt etwa Gerhard Henke-Bockschatz (2004), dass die moralische Überhöhung von Themen des Geschichtsunterrichts den differenzierten Zugang zu eben diesen eher verstelle als ermögliche. Reflektiertes Geschichtsbewusstsein bestünde angesichts der öffentlichen Moralisierung der NS-Geschichte entsprechend darin, zu dieser auf Distanz gehen zu können und die jeweiligen Perspektiven der (auch moralischen) Indienstnahme von Geschichte zu verstehen. Andererseits sieht die Geschichtsdidaktik die Aufgabe des Geschichtsunterrichts durchaus in der Vermittlung derjenigen Kompetenzen, die es Schülerinnen und Schülern ermöglichen, Werturteile über die Vergangenheit und die historische Selbstverortung einer Gesellschaft bzw. Nation eigenständig nachzuvollziehen und selbst fällen zu können, wie etwa Jörn Rüsen formuliert (1997).
Angesichts dieser abwägenden geschichtsdidaktischen Reflexion historisch-moralischen Lernens erscheint es überraschend, dass bislang wenig empirische Erkenntnisse darüber vorliegen, wie unter Bedingungen von Unterricht die moralische Bedeutung der Themen Nationalsozialismus und Holocaust in der Schulklasse verhandelt wird: Wie macht sich die moralische Bedeutung dieser Themen im Unterricht bemerkbar? Was geschieht, wenn Erwartungen einer moralischen Positionierung formuliert oder unterlaufen werden? Welche Bedeutung hat der Kontext Schulklasse für moralische Positionierungen in diesem Themenfeld? Mit welchen Risiken muss das historisch-moralische Lernen in der Schule rechnen?
Will man diese Fragen empirisch untersuchen, sind zwei zentrale Aspekte zu berücksichtigen:
Befund 1: Wissensvermittlung statt moralischer Erziehung
Unsere empirischen Rekonstruktionen von Geschichtsstunden in unterschiedlichen Jahrgangsklassen und Schulformen der Sekundarstufe I[1] zeigen, dass in der Unterrichtskommunikation fast durchgehend eine direkte Einflussnahme auf das historisch-politische Bewusstsein vermieden wird. Stattdessen dominiert eine wissensbezogene Form der Thematisierung des Nationalsozialismus. Behandelt werden soziale, politische und ideologische Hintergründe und Zusammenhänge der NS-Verbrechen. Moral im Sinne einer personenbezogenen Adressierung der Schüler/innen wird auch dann vermieden, wenn Lernende Beiträge in das Unterrichtsgespräch einbringen, die als Abweichung von moralischen Erwartungen des Redens über den Nationalsozialismus gedeutet werden könnten. Lehrpersonen korrigieren in solchen Situationen Unzulänglichkeiten im Umgang mit historischen Quellen oder Inkonsistenzen in der Argumentation, nicht jedoch den Urheber dieser Äußerungen als moralisches Subjekt. Diesen sachlichen, auf den kognitiven Gehalt des Themenfeldes zielenden Modus der Kommunikation könnte man als Beleg für die relative Stabilität der Prämisse der schulischen Thematisierung des Nationalsozialismus und des Holocaust deuten: Bis auf weiteres vertraut der Geschichtsunterricht auf die allen Beteiligten unterstellte moralische Verurteilung des Nationalsozialismus. In diesem Sinne lassen sich unsere Analysen zunächst dahingehend resümieren, dass historisch-moralisches Lernen, das explizit von den Lehrpersonen ausgeht und auf die moralischen Urteile und Haltungen der Schülerinnen und Schüler zielt, eher vermieden, wenn nicht gar gezielt umschifft wird.
Befund 2: Moralische Konflikte im Geschichtsunterricht
Nur unter ganz spezifischen Bedingungen, so unsere Analysen, kommt es im Geschichtsunterricht über den Nationalsozialismus und den Holocaust zu einer moralischen Aufladung der Kommunikation. Auffallend an diesen Situationen ist, dass sie nicht von Lehrpersonen und das heißt absichtsvoll initiiert werden. Sie sind vielmehr entweder das Resultat einer kommunikativen Explizierung des impliziten moralischen Gehalts des Themenfeldes Nationalsozialismus und Holocaust oder aber die Reaktion auf Beurteilungen der Lehrperson, die von den Lernenden zumindest im Zusammenhang dieses Themenfeldes als an sie persönlich adressierte moralisch-negative Urteile gedeutet werden.
Was folgt aus diesen Ergebnissen über die Bedeutung von Moral in der unterrichtlichen Thematisierung von Nationalsozialismus und Holocaust für die erinnerungspädagogische Arbeit? Zwei Schlussfolgerungen drängen sich auf:
[1] Es sind für die Studie vier mehrwöchige Lehreinheiten im Geschichtsunterricht in zwei Hauptschulklassen der Jahrgangsstufe 9 und in zwei Gymnasialklassen der Stufe 10 beobachtet, audiotechnisch aufgenommen und zum großen Teil in Transkriptprotokolle transformiert worden.
Henke-Bockschatz, Gerhard (2004): Der „Holocaust“ als Thema im Geschichtsunterricht. Kritische Anmerkungen. In: Meseth, W./Proske, M./Radtke, F.-O. (Hg.): Schule und Nationalsozialismus. Anspruch und Grenzen des Geschichtsunterrichts. Frankfurt/New York: Campus, 298-322.
Proske, Matthias (2010): Das moralpädagogische Projekt »Aus der Geschichte lernen« und der schulische Geschichtsunterricht über den Nationalsozialismus und den Holocaust. In: Ethik und Gesellschaft Heft 2/2010: Der ganz alltägliche Rassismus. Download unter: http://www.ethik-und-gesell-schaft.de/mm/EuG-2-2010_Proske.pdf
Rüsen, Jörn (1997): Werturteile im Geschichtsunterricht. In: Bergmann, K. u. a. (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. (5. Auflage). Seelze-Velber: Kallmeyer, S. 304-308.