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Die DDR muss heute als didaktisch bereits gut aufbereitet gelten. Lehrerinnen und Lehrer können in ihrem Unterricht auf eine Reihe empfehlenswerter Geschichtsschulbücher zurückgreifen. Im Hinblick auf die Differenzierung der Darstellung, kompetente Inhaltsauswahl und Problemtiefe der Behandlung sind für die letzten Produktgenerationen sogar Qualitätssprünge zu verzeichnen. Eine Herausforderung stellen indessen der in den Bundesländern variierende, insgesamt eher geringe curriculare Stellenwert der Thematik, die Konkurrenz durch institutionelle Erinnerungsakteure und, am drängendsten, die ungeklärte Frage nach dem Ort der DDR im kulturellen Gedächtnis der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts dar.
Auf das nur beschränkt zur Verfügung stehende Stundendeputat reagieren Lehrmittel – wobei hier hauptsächlich an solche für die Sek. I gedacht ist – generell und auch im Falle des ostdeutschen Staates als Reduzierer, Elementarisierer, Vereinfacher. Wie zuletzt Ulrich Arnswald in einer einschlägigen Untersuchung (2006) feststellte, werden dort wesentliche Basisinformationen zu Staatsgründung und Herrschaftsstrukturen vermittelt, die Eckpfeiler 1953 und 1961 skizziert, halbwegs verlässlich noch das Signum der Mangelwirtschaft, Frauen (bzw. Geschlechterverhältnisse) und FDJ, außerdem ein wenig Widerstand bzw. Dissidenz behandelt. In der Regel müssen aber des Weiteren wenige Zeilen zur (eigenständigen) Außenpolitik, zur deutsch-deutschen Geschichte (Grundlagenvertrag, Grenzregime, Reiseverkehr) bzw. nur noch selten so titulierten „deutschen Frage“, zu Bildung, Kunst und Kultur sowie Kirche genügen. Die DDR wird damit, immerhin, nicht als „Fußnote der Geschichte“ (Stefan Heym 1990) abgetan. Wirklich viel aber, so scheint es, ist in diesem Land sehr lange nicht „passiert“, es war statisch, kannte kaum Veränderung. Die derart still gestellte Zeit gerät erst wieder gegen Ende der 1980er Jahre in Bewegung, wenn sich nach „Niedergang und Krise“ die „Überwindung der Teilung“ abzeichnet. Dadurch kann die in der kultusministeriellen Diktion so bezeichnete friedliche Revolution als intensives Ereignis von welthistorischer Bedeutung gefeiert werden; die vielschichtigen ökonomischen und politischen Gründe für den Sturz der SED-Herrschaft bleiben jedoch im Dunkel.
Ein weit darüber hinaus gehender Bildungswille, ja Bildungsoptimismus charakterisiert die interessierte zivilgesellschaftliche Seite: Die Behörde der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen genauso wie die Bundeszentrale oder die Landeszentralen für politische Bildung, die Lehrerinstitute der Länder (z.B. LISUM Berlin-Brandenburg, LISA Sachsen-Anhalt), die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Mahn- und Gedenkstätten (z.B. Berlin-Hohenschönhausen, Marienborn), die Robert-Havemann-Gesellschaft, Fernsehsender wie ZDF oder MDR, um nur einige zu nennen, veröffentlichen ohne Unterlass Quellensammlungen, Lesebücher, multimediale Dokumentationen, Handreichungen, Fotoalben, Exkursions- wie Museumsführer, Filmhefte, Anleitungen zum Umgang mit Zeitzeugen und vieles mehr (zumindest auch) ad usum scholarum. Diese beleuchten neben den eminenten Kernbereichen des diktatorischen Systems (Machtapparat, Staatssicherheit, Grenze, Opposition) insbesondere das Alltagsleben, einzelne soziale Milieus, Konsum, Filmproduktion, Musikszene, Popkultur, mithin die vitalen, „spannenderen“ Themen der Geschichtsbefassung. Zwar tritt, da von realistischer Unterrichtszeit abgesehen wird, in den Publikationen hochglänzende Detailtrunkenheit an die Stelle nüchterner Grundversorgung. Doch tut es gut festzustellen, dass sich ihrerseits die Schulbuchverlage, was Inhalte, Medien und Lernmethoden betrifft (Stichworte z.B.: Audiovisualität, Oral History, Projekte, Studientage, Ausstellungen), zunehmend an diesen reichhaltigen Ressourcen orientieren und somit das historische Lernen an die Gegenwart der Schülerinnen und Schüler heranrücken.
Die vielgestaltige geschichtskulturelle Verarbeitung des historischen „Stoffes“ kann allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass der angemessene Platz der DDR in unserem kollektiven Gedächtnis bzw. individuellen Geschichtsbewusstsein noch nicht gefunden ist. Da jene noch unserem kommunikativen Gedächtnis zugehört, werden nämlich die Geschichten über sie an sehr unterschiedlichen Orten gefertigt – in der akademischen zeithistorischen Forschung, in Parteien und Verbänden ebenso wie in der Schule oder am familiären Abendbrottisch. Zu reflektieren sind allerdings die je spezifischen Rollen der Erinnernden.
Geschichtsschulbücher jedenfalls sind Stätten gesellschaftlicher Vernunft. Im von ihnen angeleiteten Unterricht sollten nicht alte oder gar aktuelle Grabenkämpfe ausgefochten werden, sondern die jungen Lernenden, im Vertrauen auf die gerechtfertigten Glaubensgrundsätze der Älteren, zur Besinnung kommen (terminologisch korrekt: zur historischen Sinnbildung befähigt werden). Ausgewogenheit, Abgeklärtheit, Ausgleich sind dafür Voraussetzung. Schulbuchmacherinnen und Schulbuchmacher haben für die Zeit nach 1949 insbesondere zu entscheiden, ob man – was kaum noch geschieht – getrennte deutsche (National-) Geschichten oder aber Parallel- oder Verflechtungsgeschichten erzählen möchte. Oder man folgt – immer öfter – gleich einem vollständig integrierenden Narrativ, möglichst noch unter Einbettung in die weltgeschichtlichen Zusammenhänge („Ost-West-Konflikt“, „Kalter Krieg“, „Konfrontation der Blöcke“). In einem soeben erst erschienenen Lehrwerk wird sogar wieder der sonderbare Begriff des einen Volkes ins Feld geführt, das zu seinem Leidwesen nach 1949 eben zwei Geschichten kannte. Auf den Buchseiten finden diese Überlegungen zum historischen Neben-, Gegen-, Mit- oder Ineinander ihren Niederschlag bald in separierten Großkapiteln (fast stets, aber nicht ausnahmslos erst BRD, dann DDR, jeweils von der Gründung bis zur Wiedervereinigung, gern mit synoptischen Chronologien), bald aspektvergleichenden Abschnitten (Markt- und Planwirtschaft, Freizeitverhalten, „Jugend in West und Ost“ – letztes leider meist ohne Erwähnung des besonders willkürlichen DDR-Jugendheimsystems), in alternierenden, gleichartig aufgebauten Doppelseiten oder aber konsequent abgrenzungsfreien Erzählcollagen.
Trivial ist es darauf hinzuweisen, dass bei allen Konzepten im Zweifelsfall die Perspektive der (späten) Bundesrepublik überwiegt, ihre Institutionen, Werte, politischen Ziele zum Maßstab des Handelns gemacht werden. Eindeutigkeit in der lehrbaren Aussage ist dadurch dennoch nicht zu erzielen. Stattdessen ist die DDR im Schulbuch heute zu einem Tummelplatz der Fragezeichen geworden: War sie eine „Alternative“ oder ein „Staat gegen das eigene Volk“, ist die „entwickelte sozialistische Gesellschaft ein leeres Versprechen“ und überhaupt „Deutschland wieder ein vereintes Land“? Manchmal werden die Antworten durch die Quellenauswahl präjudiziert, bestimmte Auffassungen in den Autorentexten explizit gemacht, einzelne Lesarten empfohlen. Manchmal eignen sich gerade die Arbeitsaufgaben nur für den simplen Nachvollzug vorgegebener Meinungen. Die allgemeine Tendenz ist jedoch, Raum für offene Diskussion und Reflexion, mehrdimensionale Deutungen sowie ein differenziertes Urteil zu schaffen. Und demzufolge fällt es heute bereits unangenehm auf, wenn z.B. in einem Oberstufenbuch von 2009 der Liedermacher Wolf Biermann „nach bestem Nazimuster“ ausgebürgert, damit der gerade aufgrund seiner Beiläufigkeit besonders kontraproduktive Strukturvergleich von Nationalsozialismus und DDR-Sozialismus bemüht wird und es ergänzend schlicht heißt, „in Ost-Berlin“ hätten ohnedies „Verbrecher“ geherrscht.
Die selbstverständlich notwendige Suche nach dem Singulären und Eigentlichen der Diktaturerfahrung in der DDR führt unausweichlich zur „Staatssicherheit“. Hier hat zuletzt Heike Christina Mätzing auf Grundlage einer umfassenden Studie (2009) kritisiert, dass die Behandlung des MfS nach wie vor wenig schlüssig sei: Der Charakter einer Geheimpolizei, die auch in die „Alltagsnischen“ der Bevölkerung hineinwirkte, komme selten klar zum Ausdruck; der Unterdrückungsapparat werde (ganz im Gegensatz zur Behandlung des nationalsozialistischen Terrorsystems) schöngeredet; die Opferperspektive finde wenig Berücksichtigung. So werde leider ein wesentliches Mittel der Demokratie- und Menschenrechtserziehung im Geschichtsunterricht aus der Hand gegeben.
Sozusagen als ästhetisch vermittelnden Zugriff schmückte bereits 2003 den Umschlag einer Ausgabe von „Forum Geschichte“ das 1993 entstandene Gemälde „Hinter den 7 x 7 Bergen“ des Leipziger Malers Wolfgang Mattheuer (1927-2004). Für dieses hatte der Künstler Motive aus einem Vorgängerbild von 1973 wiederverwendet – insbesondere die zentrale Straßenachse durch eine triste Landschaft, bunte Luftballons sowie einige mit deren Hilfe schwebende barbusige Damen, die an Miss Liberty oder die das Volk führende Freiheit von Delacroix erinnern – und durch Hinzufügung abweisender Hochhausfassaden sowie zersiedelter Ebenen skeptisch den neuen Verhältnissen anverwandelt. Metaphorisch hatten die Verantwortlichen bei dieser ungewöhnlichen Wahl wohl im Sinn, schon auf dem Einband des Lehrwerkes mahnend den andauernden Unterschied zwischen Demokratie(n) und Diktatur(en) zusammen mit den beiderseits unerfüllten Glücksverheißungen zu versinnbildlichen. Vielleicht wollte man außerdem ein trockenes Schulbuch endlich einmal sexy erscheinen lassen.
Unmissverständlich aber geht von hier auch das Signal aus, dass die DDR nicht herzlos in die Quarantäne einer einzigen großen Verirrung einzuweisen ist. Wir werden vielmehr erfahren, dass sich fortan – nach Ablösung der ersten, noch erregten Erlebnisgeneration just in diesen Jahren – die ruhig über Repression und Unrecht berichtenden Stimmen stärkeres Gehör verschaffen, ohne die vielerorts gnädigen „Erinnerungen“ an eine offenbar unselige Vergangenheit einfach ersetzen zu können. Einer pluralistischen Demokratie ist jedoch nichts anderes als diese gelebte Multiperspektivität auch in Sinnfragen würdig! Schon von daher mögen die unseren Geschichtswünschen am besten angepassten Schulbücher eines bezeugen: Dass es der in vierzig Jahren Willkürherrschaft, sozialistischer Proletarisierung und ökonomischer Ausweglosigkeit nie ganz verloren gegangene Glaube an die Unbedingtheit des freien Gedankens, die Kraft und Schönheit des künstlerischen Werks, an Gewerbefleiß und Produktstolz, an eine gesamtdeutsche Identität in einem friedlichen Europa war, der den Ostdeutschen sehr schnell nach 1989/90 die Rückkehr in eine entwickelte Völkergemeinschaft ermöglichte. Die Erwartung einer besseren Zukunft entwich nicht aus dem ummauerten Staat, wie es Mattheuer als Gefahr andeutet, sondern überdauerte hinter den sieben Bergen, um schließlich den Kairos des „9. November“ rechtzeitig zu ergreifen. Und das wäre eine zwar nicht unbedingt in jeder Hinsicht quellenverbürgte, aber sehr wahre, traditionswürdige, mit einem Wort: schulbuchreife Geschichte.