Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Jugendliche kennen Videozeugnisse im Kontext historischen Lernens meistens nur in Form von kurzen Ausschnitten. Die ein- bis fünfminütigen Clips sind flexibel einsetzbar: in Fernsehdokumentationen, Ausstellungen oder Bildungsmaterialien - ein Mosaikstein, ergänzt manchmal durch biografische Kurzinformationen, in den meisten Fällen aber eingebettet in eine Gesamterzählung, die thematisch ausgerichtet ist.
Oft entspricht der Clip einem Erzählzusammenhang, der über einen für die Zuhörenden nachvollziehbaren Anfang und über ein Ende verfügt. Welche Geschichte oder Frage sich daran anschließt oder dem Gesagten vorausgeht, erfährt der Lernende nicht. Das Interview dient als Steinbruch, aus dem die gewünschten Ausschnitte gebrochen werden. Der lebensgeschichtliche Zusammenhang, der Fortgang der Erzählung sowie deren Form als Interview gehen dadurch verloren.
Bei den Originalquellen handelt es sich meist um mehrstündige Interviews, die die gesamte Lebensgeschichte umfassen. Das gilt für den Bestand des Shoah Foundation Institutes for Visual History and Education, aber auch für das ältere Fortunoff Archive: Angefangen von der Kindheit, über die Verfolgung, bis in die gegenwärtige Zeit der Interviewführung reichen die Erzählungen. Dabei ist deren Verlauf keineswegs immer linear.
Im Projekt „Zeugen der Shoah“ ging es darum, einigen dieser Quellen mit ihren medialen und inhaltlichen Eigenarten möglichst nahe zu kommen. Die Jugendlichen sollten sich das Besondere des jeweiligen Interviews angeleitet, aber selbst forschend erschließen. Daher wurden Ansätze entwickelt, die die Verwendung von kurzen Clips mit der von längeren Passagen bis hin zu ganzen Videozeugnissen koppeln.
Als didaktische Werkstatt der Erprobungsphase diente ein Seminarraum an der Freien Universität. In den vergangenen Jahren kamen fast 40 Schulklassen, um mit ausgewählten Videozeugnissen zu arbeiten. Die vielfach aus Berlin stammenden Überlebenden berichten darin u.a. über Erfahrungen, die sie in einem dem der Lernenden vergleichbaren Alter machten. Nach einem Einblick in rund sieben Interviews wählten die Jugendlichen eines aus, mit dem sie sich intensiv beschäftigten.
Zur Quellenanalyse hat sich die Methode des wiederholten Sehens/Hörens eines längeren Interviewausschnitts bewährt. Dabei erarbeiten die Teilnehmenden jeweils unterschiedliche Dimensionen der Erinnerungsberichte: Den Inhalt, die Erzählformen, alles was sich jenseits der Sprache ausdrückt sowie die Besonderheiten des Mediums und nicht zuletzt die Wirkung der Interviews und das eigene Rezeptionsverhalten (Worauf achte ich? Was fällt mir besonders auf?). Für eine solche Analyse sind längere Passagen gut geeignet.
Erst im Verlauf der gesamten Erzählung des Interviews können Motive herausgearbeitet werden, die immer wieder auftauchen. Auch lassen sich die Interviewführung, ihr Einfluss auf die Erzählung sowie das Verhältnis zwischen Erzählendem und Fragendem dann besser beurteilen. Die Jugendlichen beobachten hier genau und benennen, was sie ggf. anders gemacht oder gerne noch gefragt hätten. Auf diese Weise treten sie in eine vermittelte Beziehung zu dem oder der Interviewten.
Toncheck, Tapewechsel und Telefonklingeln im Hintergrund erleichtern die Einsicht in den Entstehungsprozess des Interviews, in das Setting des Interviews und seine Medialität. Die Lernenden überdenken das Interview und entwickeln eine Form reflektierter Empathie.
Bei den Ergebnissen bekommt die biografische Rekonstruktion der Lebensgeschichte Raum, aber auch die Deutungen der Jugendlichen, indem sie zeigen, inwiefern die Erzählungen für sie persönlich bedeutungsvoll geworden sind.
Schülerinnen und Schüler kommen erstaunlich gut mit ungeschnittenen Video-Interviews zurecht und sie interessieren sich für die gesamten Lebensgeschichten der Zeugen des Holocaust. Nichtsdestotrotz erfordert die Arbeit mit ungeschnittenen Video-Interviews viel Vorbereitungszeit von Seiten der Lehrenden und ganze Projekttage zur Durchführung.
Für die neu entwickelte DVD-Reihe „Zeugen der Shoah“ werden daher aus zwölf Video-Interviews halbstündige Interviewkurzfilme erarbeitet, die den lebensgeschichtlichen Bogen des Gesamtinterviews beibehalten. Die DVD stellt die Fragen ins Zentrum, die uns heute für eine Auseinandersetzung der Schülerinnen und Schüler relevant erscheinen. Sie lässt darüber hinaus bei jedem Interviewkurzfilm Platz für eine eigene Aufgabenstellung.
Den Rückgriff auf die ungeschnittenen Videozeugnisse wird das Online-Archiv „Zeugen der Shoah“ möglich machen. Dort können die Nutzerinnen und Nutzer der DVD den Schnitt der Interviewkurzfilme nachvollziehen oder sich aus Interesse an der Person und ihrer Erzählung auf ein anderthalb bis dreistündiges Interview einlassen. Das Online-Archiv ermöglicht es darüber hinaus, weitere Interviews für die didaktische Arbeit zu entdecken und mit eigenen und immer neuen Fragestellungen forschend zu lernen.
Das Lernen mit Videozeugnissen erfordert Zeit, aber die Jugendlichen begegnen ihnen mit großer Aufmerksamkeit. Viele der Teilnehmenden betonen, dass sie dadurch zum ersten Mal begriffen haben, welche Dimensionen die nationalsozialistische Verfolgung hatte und was sie für einzelne Überlebende bedeutete.
Im Frühsommer 2011 erscheinen die Produkte des Projektes „Zeugen der Shoah“: