Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
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Es ist paradox: Geschichtsbücher, zumal Lehrbücher für Geschichte, wollen Geschichtsbewusstsein schärfen. Doch viele zeigen nicht, dass Geschichte als rekonstruktive Interpretation von Vergangenheit intensive Arbeit an Quellen voraussetzt. Gewiss, Lehrbücher präsentieren oft auch historische Dokumente, aber zumeist nur als Illustrationen, im besten Fall mit Legenden, die Herkunft und Urheber erläutern. Die Überlieferungsgeschichte der Quelle fehlt fast immer. Auf diese Weise wird die Chance verpasst, Einblicke in die Werkstatt der Historie zu gewähren. Im Ergebnis macht man Lernende glauben, Geschichte sei das, was im Buch steht: Merk- und Lernstoff. Das Quellenmaterial aber, also der in besonderen Machtkonstellationen entstandene Rohstoff, aus dem Historiker ihre Schlüsse ziehen, bleibt dabei oft abstrakt und unsichtbar.
Weil historische Quellen weder sprechen noch sprudeln können und ohne Fragen und Kontexte stumme Dokumente bleiben, haben wir eine digitale Werkstatt konzipiert. Unsere Website „Mit Stempel und Unterschrift. Dokumente zur Zwangsarbeit im Nationalsozialismus“ bietet eine moderne Lernumgebung für das Feld der Quelleninterpretation.
Die Vorarbeiten leisteten Uta Gerlant, Stefan Gehrke und weitere Kolleginnen und Kollegen aus der Stiftung EVZ, als sie ab dem Jahr 2000 die Entschädigungsanträge von Zwangsarbeitern prüften. Anwerbungskarten, Werkausweise, Ausgangsscheine, Häftlingspersonalkarten, provisorische Identitätskarten nach 1945, Arbeitszeugnisse, Filtrationsbögen und Gedichte: All diese Dokumente waren von ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern mit Entschädigungsanträgen eingesandt worden, als Belege oder Beglaubigungen für ihre Zeit als „Fremdarbeiter“ in der deutschen Volksgemeinschaft. Besonders interessante und charakteristische Materialien haben wir ausgewählt, um sie fruchtbar zu machen für historische Bildung. Unser Angebot wendet sich besonders an Lernende der Sekundarstufe II und Studierende der Geschichts- und Kulturwissenschaften.
Die Dokumente sind meist amtlich, d.h. sie tragen Stempel und Unterschrift einer Behörde oder Institution. Ihre unterschiedlichen Provenienzen verweisen auf mindestens drei Zeitschichten: Zeit des Nationalsozialismus, frühe Nachkriegsjahre und die konfliktreiche Endphase der gesellschaftlichen Anerkennung des Unrechts der Zwangsarbeit im frühen 21. Jahrhundert.
Die Website widmet sich insgesamt 30 historischen Quellen – dies auf vielen Ebenen. Sie ordnet die Quellen in große Kontexte ein, erörtert sie in vielen Details, wirft Fragen auf. Für die surfenden Leserinnen und Leser entstehen, geleitet von Neugier und Arbeitsauftrag, jeweils eigene, facettenreiche, nicht-lineare Darstellungen der Geschichte der NS-Zwangsarbeit. Unsere Testphase hat gezeigt, dass diese Leseerfahrung zu Aha-Effekten führt und Lust macht auf eine neue Form der selbstbestimmten Auseinandersetzung mit historischen Quellen.
Die Website kombiniert Online-Werkzeuge mit bewährten Hilfsmitteln wie Handouts und Aufgaben für Selbststudium und Gruppenarbeit. Die wichtigsten digitalen Zugriffe auf das Material zeigt die Grafik, die diesem Beitrag voran gestellt ist. Zu jedem Dokument gibt es außerdem ein PDF "Lehrmaterial" mit drei Bereichen: Reprint des Dokuments, Arbeitsblätter mit Fragen und Aufgaben, Kommentare. Sie entsprechen jenen drei bis fünf Online-Texten, in denen jedes Dokument auf der Website unter verschiedenen Gesichtspunkten befragt und diskutiert wird.
Viele Werkzeuge gibt es nur Online: das „Fließband“ mit der Auswahl aller 30 Dokumente, 90 Interpretationshilfen zum Einstieg, ein Glossar, Such- und Sortierfunktionen nach Herkunft, Arbeitsorten und Branchen und schließlich die Themenwolke, die entlang von insgesamt 40 Stichworten die Dokumente mit einander in Beziehung setzt (s. Grafik). Hyperlinks in den Kommentaren unterstützen einen professionellen Gebrauch von Internetressourcen in der historischen und ästhetischen Bildung.
Unsere geschichtswissenschaftliche Lernumgebung konfrontiert kritisch mit nationalsozialistischen Perspektiven auf die Zwangsarbeiter, aber auch mit dem Blick der Nachkriegsgesellschaften Mittel- und Osteuropas auf den Umgang mit ehemaligen Zwangsarbeitern. Wir setzen bei den historischen Quellen an, weil historisches Verstehen ein Wissen braucht, das sich stets auch aus persönlicher Anschauung, Aneignung und Urteilskraft entwickeln sollte. Mit Angeboten Online wie Offline lässt sich methodische und medienpraktische Kompetenz erwerben – das sind wichtige Schritte hin zu einem reflektierten Geschichtsbewusstsein.