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Die erste Frage, die sich stellt, ist die schwerste: Warum sollten wir uns heute mit dem Thema Zwangsarbeit befassen? Darauf gibt es viele Antworten, die nicht alle den in dieser Frage enthaltenen Imperativ befriedigen werden.
Eine davon lautet: Zwangsarbeit war das nationalsozialistische Unrecht, das – auf anderer Ebene als der Holocaust – am meisten und am stärksten in das Alltags- und Arbeitsleben der deutschen Bevölkerung einwirkte und vermutlich auch deshalb am wenigsten als Unrecht begriffen wurde. Über 13 Millionen Menschen wurden in das Deutschen Reich zum so genannten Kriegseinsatz verschleppt und zur Arbeit gezwungen. Davon waren ca. mehr als 8,44 Millionen so genannte Zivilarbeiter und -arbeiterinnen überwiegend aus Osteuropa und ca. 4,59 Millionen Kriegsgefangene; hinzu kamen ca. eine Million rassistisch Verfolgte, vor allem Juden sowie Sinti und Roma, und ca. 700.000 andere KZ-Häftlinge, darunter die „Politischen“. Außerdem wurde eine bisher nicht genau bezifferbare Anzahl von Personen in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten zwangsweise eingesetzt. Die KZ-Häftlinge, die von der SS zur Arbeit verkauft, vermietet oder direkt im KZ zur Arbeit gezwungen wurden, werden gemeinhin als „Sklavenarbeiter/innen“ bezeichnet und waren einem besonders brutalen Arbeitsregiment ausgesetzt mit extrem hoher Todesrate.
Eine zweite Antwort: Kaum ein Betrieb, kaum eine Verwaltung, kaum ein Hof und kaum eine Institution, die nicht von der Zwangs- und Sklavenarbeit profitierte, insbesondere die Industrieunternehmen. Allein in der Landwirtschaft waren im Sommer 1944 fast die Hälfte aller Beschäftigten Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen. In der Baubranche, im Bergbau und in der Metallindustrie stellten sie ca. ein Drittel aller Arbeiter, in den Bereichen Chemie- und Verkehr mehr als ein Viertel. Insgesamt betrug ihr Anteil an allen Beschäftigten 26,5 Prozent. Ungefähr ein Drittel davon waren Frauen. Ohne Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen wäre die deutsche Kriegswirtschaft zusammengebrochen.
Eine dritte Antwort: Bei genauer Befragung kommt heraus, dass in nahezu jeder deutschen Familiengeschichte Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen eine Rolle spielen und daher direkt mit dem heutigen eigenen Leben verbindbar sind.
Das ist in der Tat erschreckend, werden viele Schüler und Schülerinnen bemerken, aber was haben wir als Angehörige junger Generationen, heute damit zu tun? Auch auf diese Frage könnten mehrere Antworten zum Nachdenken anregen:
Eine erste: Heute noch gibt es viele Bauwerke, Straßen, Stauseen, Fliegerhorste, Tunnel, Stollen, die von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen erbaut wurden und von denen wir heute profitieren. Wer denkt bei der Nutzung beispielsweise von Trinkwasser daran, ob dieser Stausee von – sagen wir – deutschen Juden, Franzosen aus dem von Nazi-Deutschland ausgehaltenen „Vichy-Frankreich“ oder in den Zivilstatus versetzten polnischen Kriegsgefangenen gebaut wurde? In der Versetalsperre im Sauerland liegt sogar das frühere „Arbeitserziehungslager Hunswinkel“ am Grunde des Stausees.
Eine weitere Antwort: Viele Vermögen oder auch Höfe wären ohne die Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg weitgehend ruiniert worden. Die ausländischen Arbeitskräfte jedoch, die damals für die entsprechenden Unternehmen oder Bauern schufteten, haben keinen entsprechenden Arbeitslohn und erst Recht keine Rente bekommen. Nur in einer verschwindenden Anzahl von Einzelfällen haben spätere Firmeninhaber oder deren Familienangehörige versucht, die früheren Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen ausfindig zu machen und ihnen eine kleine Betriebsrente zu zahlen.
Eine dritte Antwort: Als deutsche Firmen und Banken in den 1990er Jahren auf den amerikanischen Markt traten oder mit US-Unternehmen fusionieren wollten, drohten ihnen Sammelklagen früherer Sklavenarbeiter oder jüdischer Vertriebener, die für ihre Renten, für den ihnen vorenthaltenen Lohn oder für ihre Lebensversicherungen, die sie nie erhalten hatten, streiten wollten. Um solche Sammelklagen zu verhindern, gründete man die Stiftung der deutschen Wirtschaft und schließlich die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“, die schließlich 10 Milliarden Deutsche Mark (ca. 5 Milliarden Euro) zur Hälfte aus dem Geld der heutigen Steuerzahler zusammenstellte und ca. 4,37 Milliarden Euro an 1,665 Millionen frühere Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auszahlte. So rächte sich das jahrzehntelange Verschweigen und Wegschieben dieser Problematik: Die mit in die Verantwortung Gezogenen waren auch nachfolgende Generationen. Umgekehrt war bereits die Mehrheit der früheren Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen gestorben, hatte nichts von dieser Auszahlung gehört oder kam per Gesetz nicht in den Genuss der Entschädigung, wie z.B. Westeuropäer, die nicht in KZ waren, italienische Militärinternierte und andere.
Ein drittes Problem sei hier angerissen: Wie ist das Thema Zwangsarbeit heutigen Jugendlichen zu vermitteln? Ein Teil der bisherigen Antworten hat die Aktualität des Themas schon deutlich gemacht. Zwei weitere Überlegungen: Wie in vielen anderen Bereichen sind die Lebensgeschichten früher Zwangs- und Sklavenarbeiter, die Geschichte ihrer Verschleppung, ihrer Ausbeutung, ihre Geschichte nach 1945 und auch die Erzählungen ihrer Besuche in Deutschland für Jugendliche anregend, um sich für die Geschichte der Zwangsarbeit und der damit zusammenhängenden Politik zu interessieren. Außerdem zeigt die enorme Zahl dieser Einzelschicksale, auf welche Schwierigkeiten heutige „Erinnerungspolitiken“ in Europa (und darüber hinaus) stoßen, welche Ursachen bestimmte Deutschlandbilder haben und wie gespalten die Erinnerungskulturen in den verschiedenen Ländern Europas sind: Denn einige ost- und mitteleuropäische Länder waren Verbündete des nationalsozialistischen Deutschen Reiches und die Arbeiter aus diesen Ländern hatten Vorrechte, die aus anderen Ländern nicht.