Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Der von der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) herausgegebene Atlas zur Geschichte Ostmitteleuropas „Zwangsumsiedlung, Flucht, Vertreibung 1939-1959“ behandelt schwerpunktmäßig die Zeitspanne vom deutschen Überfall auf Polen 1939 bis zum Ende der Repatriierung der in die UdSSR deportierten Polinnen und Polen 1959. Die Autor/innen des Atlas sind vier jüngere polnische Historiker/innen aus Warschau und Wrocław, die bei der Herausgabe von dem Historiker und Atlasredakteur Witold Sienkiewicz unterstützt wurden.
Die polnische Originalausgabe des Atlas erschien 2008 im Warschauer Kartographie-Verlag Demart, einem kommerziellen, nicht-wissenschaftlichen Verlag, der Atlanten und Gebrauchskarten publiziert. Die polnische Ausgabe des Atlas verkaufte sich gut und wurde 2009 in Polen als „Historisches Buch des Jahres“ in der Kategorie „Populäres Buch“ mit einem angesehenen Historikerpreis ausgezeichnet - Stifter des Preises ist u.a. das staatliche Institut für Nationales Gedenken (Instytut Pamięci Narodowej, IPN). Noch im gleichen Jahr wurde der Band für den deutschen Markt übersetzt und zuerst vom Weltbild-Verlag unter dem Titel „Illustrierte Geschichte der Flucht und Vertreibung 1939-1959“ verlegt. Im Jahr 2009 konnte die BpB den Atlas als Lizenzausgabe publizieren.
Der Fokus auf erzwungene Teilungen und Umsiedlungen und die polnische Geschichte im 20. Jahrhundert begründet den europäischen Zuschnitt des Atlas. Zeitlich und geografisch wird das vollständige polnische Territorium vor und nach dem Zweiten Weltkrieg behandelt: Das Gebiet der Zweiten Polnischen Republik in den Jahren 1918-1939, der Freien Stadt Danzig in der Zwischenkriegszeit sowie die Gebiete des Deutschen Reiches, die nach 1945 an Polen abgetreten wurden. Die transnationale Perspektive des Atlas resultiert darüber hinaus in einer Strukturierung nach Bevölkerungsgruppen, die Deutsche, Ukrainer, Weißrussen, Litauer, Tschechen, Slowaken und in einer Kategorie zusammengefasste „Andere“ einbezieht.
Ein zentrales Kapitel ist der jüdischen Bevölkerung Polens gewidmet. Es umspannt die Situation in der Vorkriegszeit sowie die Ghettoisierung und Vernichtung. Besonders erwähnenswert sind hierzu die aufschlussreichen und übersichtlichen Kartendarstellungen der Ghettos in Warschau, Łódź und Białystok. Ein weiterer Schwerpunkt wird auf das Pogrom von Kielce 1946, die Migration polnischer Jüdinnen und Juden nach Israel nach der Staatsgründung 1948 sowie die Umsiedlung von Jüdinnen und Juden aus der UdSSR nach Polen gelegt.
Das Kapitel über die Deutschen beginnt mit der Darstellung der nationalsozialistischen Umsiedlungspolitik von deutschen Bevölkerungsteilen auf zuvor polnisches Territorium ab 1939. Im Anschluss werden die Flucht und Evakuierung der deutschen Bevölkerung nach Westen von 1944-45 beschrieben, zwei weitere Kapitel behandeln die Verschleppung von Deutschen in die UdSSR und die organisierte Aussiedlung zwischen 1945 bis 1948 aus den polnischen Gebieten.
Der aufwendig gestaltete Band zeichnet sich durch eine Fülle von Bildern, Porträts, Fotoabbildungen, Zeichnungen und Reproduktionen von historischen Dokumenten aus, die allerdings vorwiegend eine illustrative Funktion erfüllen. Für den Einsatz im Unterricht sind deswegen eher die zahlreichen großformatigen und sehr detaillierten Kartenmaterialen und Grafiken geeignet. Die Texte der Autor/innen werden durch anschauliche Zeittafeln und den Abdruck von historischen Quellen und Ego-Dokumenten ergänzt. Diese Zeugnisse, wie beispielsweise behördliche Protokolle und Verordnungen, Zeitzeugenerinnerungen und Tagebuchauszüge sowie Zeitungsberichte, eignen sich ebenfalls für eine quellenanalytische Verwendung im Unterricht und als ergänzendes Material zum Geschichtsbuch.
Die komplexe Geschichte der verschiedenen Zwangsmigrationen im Kontext des Zweiten Weltkriegs in einem Buch zusammen zu fassen ist ein schwieriger Ansatz. In der Vermittlung kann bei Schülerinnen und Schülern leicht der diffuse Eindruck entstehen, dass es immer viel Unrecht in der Welt gibt. Aus diesem Grund ist sowohl eine transeuropäische Perspektive als auch die Kontextualisierung der Geschichte der Umsiedlung und Flucht von Deutschen durch die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust für jede Art der Darstellung und Behandlung absolut grundlegend - ohne das letzteres dabei auf eine bloße „Vorgeschichte“ reduziert wird.