Die Historikerin Madlen Benthin untersucht in ihrem Buch deutsche und tschechische Geschichtsbücher für die Sekundarstufe I aus fünf Jahrzehnten. Dabei weist sie nach, dass Schulbücher vielmals als Seismographen für die jeweilige Erinnerungskultur agieren. Geschichtsbücher sind also stets Produkt gesellschaftlicher Aushandlungs- und Reorganisationsprozesse: sie bestimmen, welche historischen Ereignisse in einer Gesellschaft als wichtig erachtet werden. Bei der vergleichenden Analyse von 119 (!) Schulbüchern aus dem Zeitraum von 1950 bis 2004 fällt vor allen auf, wie sehr sich die Geschichtsbücher voneinander unterscheiden, obwohl sie sich alle auf den selben historischen Vorgang beziehen.
In der Erinnerungskultur der SBZ/DDR nimmt das Thema Vertreibung eher eine nebensächliche Rolle ein und unterliegt in den wenigen erschienenen Lehrwerken kaum Veränderungen. Im Zentrum der DDR-Selbstbildes standen von Beginn an die Distanzierung vom nationalsozialistischen Regime, ein kanonisierter Antifaschismus und die These, dass das deutsche Volk von Hitler verführt worden sei. Schuldige und Mitverantwortliche seien ausschließlich in der BRD zu suchen. Flüchtlinge und Vertriebene wurden zu „Umsiedlern“ umbenannt. Daneben wurden Versuch, eine Vertriebenenidentität zu bewahren, rigoros unterbunden. Vor dem Hintergrund der sozialistischen Völkerfreundschaftsideologie fielen sämtliche Grautöne in der Bewertung der gemeinsamen Vergangenheit unter den Tisch. So wird die Vertreibung der Deutschen als logische und friedensstiftende Maßnahme in Folge des Potsdamer Abkommens bezeichnet.
In der BRD unterlag das Thema dagegen verschiedenen Wandlungen, die sich meist mit geringen zeitlichen Verzögerungen auf gesellschaftliche Diskurse in den Schulbüchern niederschlugen. Standen die 1950er noch stark unter der Prämisse des Anti-Kommunismus, der deutlichen Trennung zwischen NS-Regime und Volk, der Betonung des Flüchtlingselend und der Vorläufigkeit der Oder-Neiße-Grenze, so lässt sich in den 1960er Jahren eine Verschiebung von kollektiven Opfer- zu kollektiven Täterzuschreibungen feststellen.
Infolge der Neuen Ostpolitik der Bundesregierung, der zahlreichen NS-Täterprozesse und den gesellschaftlichen Veränderungen in Folge von „68“ geriet die Thematisierung der Vertreibung zunehmend unter dem Verdacht des Revanchismus. In der Wissenschaft setzt sich bis in die 90er Jahre der Begriff der Zwangsumsiedlung immer mehr durch. Nun wird die Vertreibung der Deutschen stärker im Kontext der europäischen Zwangsumsiedlungen gedeutet, wodurch zum Teil aber auch der spezifische Kontext verschleiert wird. Neben einer erstmaligen Thematisierung der problematischen Integration rückt der Topos der deutschen Opfer nach der Wiedervereinigung stärker in den Vordergrund.
In der Erinnerungskultur der kommunistischen Tschechoslowakei lässt sich zunächst, ähnlich wie in DDR, ein Versuch beobachten, die Vertreibung der Deutschen zu verharmlosen oder zum Teil zu verschweigen. Das äußert sich u.a. in der Wahl des wertneutralen Begriffs „odsun“ (Abschub). Ferner wird die Vertreibung als logische Konsequenz der NS-Besatzung dargestellt und die deutsche Minderheit kollektiv als Nazis und Revanchisten (mit Ausnahme der Antifaschisten) bezeichnet. Was die Integration der tschechischen Neusiedler angeht, so gleicht sie einer Erfolgsgeschichte. Im Zuge der Demokratisierung Tschechiens nach 1989 trugen besonders die öffentliche Entschuldigung des StaatspräsidentenVaclav Havel für die Vertreibung sowie die intensive bilaterale Zusammenarbeit zu einer Neuausrichtung in den Geschichtsbüchern bei. Trotz der bestehenden Zusammenarbeit deutscher und tschechischer Historiker stand lange die Frage nach der angemessenen Bezeichnung im Zentrum der Auseinandersetzungen: „Abschub“ oder Vertreibung? In Bezug auf die Vorgeschichte werden vor allem das „Münchener Abkommen“ von 1938 und der darauf folgende Verlust der staatlichen Souveränität betont.
Madlen Benthins vergleichende Untersuchung thematisiert zentrale Fragen der Schulbuchforschung: Wie wollen die Gesellschaften die Vertreibung der Deutschen im historischen Gedächtnis der Schüler verankert wissen? Was wird besonders intensiv beleuchtet und was nicht? Wie verteilen sich Täter- und Opferrollen? Und schließlich, wie gestaltet sich der Übergang vom kommunikativen Gedächtnis der Erlebnisgeneration in das kulturelle Gedächtnis der jeweiligen Gesellschaften? Dabei stellt Benthin fest, dass letztlich trotz aller Pluralität in den Schulbüchern die jeweilige nationale Meistererzählung im Mittelpunkt steht. Kaum ein Buch bezieht andere Perspektiven auf die Vertreibung als die eigene mit ein. So kommt die Autorin zu dem Schluss, dass trotz fortschreitender europäischer Integration nicht alle Erinnerungen transnational vermittelbar seien.