Flucht und Vertreibung im Zuge des Zweiten Weltkrieges sind auch 65 Jahre nach Kriegsende noch ein kontrovers diskutiertes Thema in der deutschen Öffentlichkeit. Das im Klett Verlag erschienene Heft „Flucht und Vertreibung. Geschichte des 20. Jahrhunderts aus der Perspektive von drei Nachbarn“ versucht, die nationale Sicht auf das schwierige Thema zu umgehen. Deutsche, polnische und tschechische Historiker (und ein renommiertes Beraterteam) versuchen mithilfe von umfangreichem Quellenmaterial der Komplexität von Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert gerecht zu werden.
Dabei fällt zunächst die kluge Gliederung des Heftes auf. Auf eine Darstellung der Geschichte von Flucht und Vertreibung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts folgt ein Abriss zur Rezeption und Erinnerungskultur. Diese Zweiteilung erscheint besonders deshalb sinnvoll, weil in vielen Diskussionen kaum oder nur wenig die Ergebnisse der internationalen historischen Forschung berücksichtigt werden. Der erste Teil des Heftes beabsichtigt daher, in gebotener Kürze, die wesentlichen Erkenntnisse zusammenzutragen.
Die Autoren Ingo Esser, Jerzy Kochanowski und Ondrej Matejka ordnen in ihrem Einleitungstext zunächst die Vertreibungen im Laufe oder in Folge des Zweiten Weltkrieges in den Kontext der Verhältnisse in Europa von 1900 bis 1945 ein. Hier sind vor allem die Ausführungen zu komplizierten Situation der Minderheiten im Deutschen Reich, Polen und der Tschechoslowakei von Bedeutung, denn insbesondere daran lässt sich gut ablesen, wie politische und soziale Fragen erst ethnisiert und dann politisch vereinnahmt wurden (s. z.B. die Umdeutung der deutsch besiedelten Gebiete in der Tschechoslowakei in „Sudetenland“ durch die Nationalsozialisten). Doch in der kurzen Einführung wird ebenso die internationale Dimension der Vertreibung berücksichtigt.
Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit Flucht und Vertreibung aus deutscher, polnischer und tschechischer Sicht. Dabei wird jeweils zunächst der historische Kontext skizziert und durch umfangreiches Quellenmaterial ergänzt. Die einführenden Texte der Historiker sind um weitgehende Objektivität bemüht und tragen vor allem Fakten zusammen. Die Quellentexte - zeitgenössische Zeitungsberichte, Reden, Plakate oder auch Erinnerungen von Zeitzeugen – eröffnen dann die vielfältigen Sichtweisen auf die (Vor-)Geschichte von Flucht und Vertreibung. Dabei machen es sich die Autoren zur Aufgabe, ein möglichst differenziertes Bild der Vergangenheit zu entwerfen.
Im zweiten Teil des Heftes steht die Rezeption und Erinnerung an Flucht und Vertreibung im Vordergrund. Zwar liegt der Schwerpunkt auf der deutschen Erinnerungsdebatte, doch auch das Gedenken an die Vertreibung in Polen und Tschechien bzw. der Tschechoslowakei finden Berücksichtigung. Die Autoren zeichnen die verschiedenen Phasen der Konflikte und Annäherungen nach und ordnen die Diskussionen um die Vertreibung stets in ihren internationalen politischen Kontext ein. Daraus wird vor allem deutlich, wie stark das Thema in allen drei Ländern emotional besetzt war und noch immer ist. Als Stichwörter mögen hier die Debatte um ein „Sichtbares Zeichen“, die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ und die Diskussionen um die Gültigkeit der Benes-Dekrete im Vorfeld des tschechischen EU-Beitritts genügen.
Die Aktualität des Themenkomplexes „Flucht und Vertreibung“ verweist umso mehr auf die Notwendigkeit einer fundierten Diskussion zwischen gleichberechtigten Partnern. Nationale Alleingänge oder die Bevorzugung einer historischen Sichtweise können einer ernstgemeinsten Versöhnung nur im Wege stehen. Gerade weil über Flucht und Vertreibung viel medialer Wind gemacht wird, ist historisches Wissen notwendig. Die Kenntnis der hier vorgestellten Perspektiven kann das Verständnis der aktuellen Debatten nicht nur erhöhen, es ermöglicht auch eine eigene Positionierung.
Für die zukünftige Arbeit zum Thema Flucht und Vertreibung in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit erweist sich das Heft als große Bereicherung. Mithilfe der informativen historischen Texte, der zahlreichen Karten und Quellen, kann gezielt thematisch gearbeitet werden. Linktipps und online zugängliches Zusatzmaterial runden das Angebot ab. Bleibt nur, dem Heft viele Leserinnen und Leser zu wünschen.