Der Begriff „postkolonial“ nimmt die koloniale Ordnung der Welt und die Wirkungsmächtigkeit von kolonialen Diskursen auch nach dem offiziellen Ende der europäischen Kolonien in den Blick. Theoretisch beeinflusst zeigt sich der Postkolonialismus vor allem durch marxistische und poststrukturalistische Ansätze, wobei sein Zugang interdisziplinär ist.
Im Zentrum des Folgenden soll die Auseinandersetzung mit den Klassikern der postkolonialen Theorie Edward W. Said, Gayatri Chakravorty Spivak und Homi K. Bhaba stehen. Ihre Thesen vom „Orientalismus“, von der Auseinandersetzung mit dem „Subalternen“ und mit „hybriden Identitäten“ werden jeweils auf jugendliterarische Texte bezogen, die sich mit der postkolonialen Situation der Welt auseinandersetzen. Dabei wird insbesondere die Rezeption dieser Literatur bei jugendlichen Lesern in Europa in den Blick genommen.
1978 prägte der palästinensische Literaturwissenschaftler Said mit „Orientalismus“ einen neuen postkolonialistischen Schlüsselbegriff: In der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts weist er mit Hilfe einer „kontrapunktischen Lesestrategie“ nach, dass der Okzident durch einen Diskurs der „Orientalisierung“ den Orient als negativen Gegenüber des eigenen Selbstbildes abgewertet habe. Die westliche Kultur sei damit aus der Abwendung von einer konstruierten „östlichen“, „eingeborenen“ oder „primitiven“ Kultur entstanden, genauer gesagt durch das Ausblenden oder Verschweigen dessen, was diese Kulturen wirklich ausmachte. Eine Neulektüre auch klassischer Texte könne dazu dienen, das Ausgeblendete sichtbar zu machen, aber auch die eigene Kultur aus einem solchen neuen Blickwinkel wahrzunehmen. Said nimmt damit vorweg, dass auch ein neues, „postkoloniales“ Schreiben aus der Perspektive derer begonnen hat, die nicht mehr Opfer von Zuschreibungen, sondern selbstverantwortliche Akteure geworden sind.
In „The Empire writes back“ der australischen Literaturwissenschaftler Ashcroft, Griffiths und Tiffin (1989) wird diese postkoloniale Literatur zum ersten Mal grundsätzlich in den Blick genommen. Dies bedeutet zunächst ganz einfach, Räume, Menschen und Kulturen von innen heraus zu beschreiben und sich so nicht mehr der Deutungsmacht des Kolonisators auszusetzen.
Auch in der Kinder- und Jugendliteratur gibt es seither eine Tendenz, asiatische, afrikanische und lateinamerikanische Autoren ernst zu nehmen, wenn sie über ihre eigene Kultur schreiben. Auf dem deutschen Markt seien etwa afrikanische Titel wie Amu Djoletos „Obodai und seine Freunde“ (1994), Idrissa Keitas „Djemas Traum vom großen Auftritt“ (2001) oder auch Jean Frédéric Belinga Belingas „Wir drei gegen Onkel Chef“ (1998) genannt.
Alle drei Bücher beschreiben detailgetreu das Leben von Kindern im modernen Afrika. Damit werden deutsche Leser erstmals mit einem differenzierten Bild dieses Kontinents konfrontiert, Stereotypen von kolonialen Zuständen werden in Frage gestellt.
Werden solche Bücher aus den südlichen Kontinenten für europäische Jugendliche übersetzt, so ergeben sich aber auch Probleme: Eine möglichst authentische Darstellung des Lebens von afrikanischen Jugendlichen muss auf die besonderen Bedürfnisse jugendlicher Leser in Europa Rücksicht nehmen. Diese Jugendlichen wollen oft einfach nur ein spannendes Buch lesen, das vielleicht auf die eigenen Fragen an das Leben antwortet. Die Jugendlichen lesen also, ohne sich des kulturellen Kontexts bewusst zu werden. Dies hat den Vorteil, dass ihnen das Leben von Jugendlichen in den südlichen Kontinenten als „normal“ erscheint – ein Ziel, das etwa die Deutsche Welthungerhilfe durch ihre Literatur-Kampagne „Afrika – total normal“ zu erreichen suchte.
In ähnlicher Weise fordert Rudolf Schmitt, ehemaliger Professor für Grundschulpädagogik und Entwicklungspsychologie an der Universität Bremen und Gründer des Projekts „Eine Welt in der Schule“: Die „fremde“ „Dritte Welt“ sollte nicht allzu sehr von der vertrauten Vorstellungs- und Erlebniswelt der Kinder und Jugendlichen abweichen. Zu vermeiden sind Exotik und allzu krasse Formen von Krankheit und Elend. Im Vordergrund stehen Ähnlichkeiten des alltäglichen Lebens. Dieses […] Kriterium ist gleichsam eine Warnung vor zwei Fehlern, die vielen Unterrichtsvorhaben zum Thema „Eine/Dritte Welt“ immer noch anhaften: das Abgleiten in bloße Folklore- andere Länder als die exotische Fremde-, oder die Reduktion der „Dritte Welt“- Problematik auf Hunger und Krankheit, ein Bild, das die Medien immer noch gerne und eindringlich vermitteln. (Schmitt 2009).
Wer interkulturelles Verständnis zum Ziel hat, muss manchmal aber noch mehr erklären. Dies bedeutet, dass afrikanische Autoren (oder zumindest ihre Übersetzer) den europäischen Leser im Blick haben müssen, der Anspielungen, Bräuche, Kultureigenheiten nicht kennt und der eine vorsichtige Einführung braucht. Doch Vorsicht: Je detailgenauer die Wiedergabe der afrikanischen Gesellschaft ist, umso mehr erscheint das Buch als informativer Dokumentartext denn als Belletristik, bestärkt wird dieser Eindruck noch, wenn ein langes Glossar oder ein landeskundlicher Anhang das Lesen erschwert.
Die indische Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak stellt die Frage, ob nicht die „subalternen Massen“ für sich selbst sprechen sollten, so dass postkoloniale Literatur weder von gut meinenden Intellektuellen der Metropolen noch von den neuen nationalen Eliten der post-kolonialen Staaten geschrieben wird. Gerade im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur ist aber auffällig, dass zwar auf dem Buchmarkt Interesse an Themen aus südlichen Kontinenten besteht, nur in Ausnahmefällen aber die oben erwähnten Bücher von afrikanischen, asiatischen oder lateinamerikanischen Autoren den Sprung in unsere Verlage schaffen. Es zeigt sich dagegen, dass die meisten Bücher zu diesem Thema immer noch von Autoren stammen, die europäischer oder amerikanischer Herkunft sind. In den letzten zehn Jahren haben es viele von ihnen auf die Nominierungsliste für den Deutschen Jugendliteraturpreis geschafft, einige wurden auch für den Preis ausgewählt. Hier einige Beispiele aus den letzten Jahren: Phillip Gwynnes „Wir Goonyas, ihr Nungas“ (2001, nominiert 2002), Henning Mankells „Das Rätsel des Feuers“(2002, nominiert 2003), Hermann Schulz‘ „Wenn dich ein Löwe nach der Uhrzeit fragt. Eine Afrikageschichte“ (2002, nominiert 2003), Patricia Mc Cormicks „Verkauft“ (2008, nominiert 2009) und Jenna Bushs „Anas Geschichte. Ein Stück Hoffnung. Aus ihrer Arbeit bei UNICEF“ (2008, nominiert 2009).
Es ist also interessant, welch wichtige Rolle AutorInnen einnehmen, die sich von außen her in die Identität fremder Menschen hineinversetzen. Gerade weltbekannter Bestseller-Autoren wie Mankell, aber auch den anderen oben genannten Autoren kann dabei schon zuerkannt werden, dass es ihnen gelingt, zur Identifikation mit den beschriebenen Jugendlichen aus Indien oder Afrika einzuladen, es handelt sich sicher nicht mehr um die Verbreitung eurozentrischer kolonialer Sehmuster.
Die Debatte, die sich hier entspinnen könnte, ähnelt der um die Zeitzeugentexte zum Thema Holocaust. Auch hier stellte sich immer wieder die Frage nach der Authentizität des Beschriebenen. Durften nur die über den Holocaust schreiben, die ihn selbst erlebt hatten, war alles andere „Einschleichen in die Opferperspektive“ (so Juliane Köster zu einem Buch von Gudrun Pausewang)? Übertragen auf unseren Kontext bedeutet das: Sind nur die berechtigt, über eine fremde Kultur zu schreiben, die in ihr groß geworden sind und hier auch nur die, die auf der Seite der „Subalternen“ waren? Genügt es, dass Henning Mankell einen Teil seines Lebens in Mosambique verbringt, dass Hermann Schulz in Afrika aufgewachsen ist, dass Patricia Mc Cormick in Nepal und Indien recherchiert hat und Jenna Bush, die Tochter des ehemaligen Präsidenten der USA, für UNICEF eine Aids-Kranke interviewt hat, um damit das Recht zu erwerben, für die „Subalternen“ zu sprechen? Ethisch ist dies vielleicht problematisch, doch es ist bedenkenswert, dass sie – in Kenntnis des „westlichen“ Schreibstils und der Erwartungen der LeserInnen – ihr Anliegen vielleicht auf literarisch ansprechendere Weise „an den jugendlichen Leser“ bringen als dies Autoren mit „authentischen“ Erfahrungen könnten – was auch immer das im Einzelfall bedeuten mag. Dazu kommt, dass Fragen der „Authentizität“ nicht verquickt werden dürfen mit rassistischen Argumentationen: So könnte Beverley Naidoo, der Autorin von „Die andere Wahrheit“, vorgeworfen werden, dass sie weiße und nicht schwarze Südafrikanerin ist und sich damit der Recht verwirkt hat, aus dem Blickwinkel von Schwarzen zu schreiben.
Spivak warnt davor, für die „Subalternen“ die Stimme zu erheben und sie damit zum Schweigen zu verurteilen, doch Organisationen wie der schweizerische Kinderbuchfonds Baobab, der Bücher als „Vermittler zwischen den Kulturen“ empfiehlt, machen keinen Unterschied zwischen westlichen AutorInnen, afrikanischen Intellektuellen und den „Subalternen“.
Postkoloniale Theorie basiert unter anderem auf poststrukturalistischen Theorien, die essentialistische und eurozentristische Diskurse dekonstruieren. Die kulturelle Identität wird gedeutet als Produkt eines narrativen Vorgangs und seiner Rezeption, eine Idee, die insbesondere der indische Kulturwissenschaftler Homi K. Bhaba in seinem Buch „Nation and Narration“ (1990) aufgreift.
Statt essentialistisch vom Kontakt unterschiedlicher nebeneinander existierender Kulturen zu sprechen oder von der Dichotomie von „Selbst“ und „Anderem“ (oder auch Ost/West, Mann/Frau, Zentrum/Peripherie), behauptet Bhaba in Fortsetzung der theoretischen Vorgaben Michail Bachtins, es gebe einen „dritten Raum“, ein „in-between“ neben stabilen Identitäten, Kulturen, Nationen oder Ethnien. Identität entstehe weder aus einem multikulturellen Nebeneinander noch aus einem dualistischen Gegeneinander, sondern stelle eine wechselseitige Durchdringung von Zentrum und Peripherie, Unterdrücker und Unterdrücktem dar. So verändere das Wahrnehmen von marginalisierten Kulturen auch die Kulturen des Zentrums. Die Identitätsbildung sei bestimmt von einem Gefühl des Verlangens nach dem „Anderen“ und der Furcht vor ihm. Hybridität ist demnach, „was sich einer Vermischung von Traditionslinien oder von Signifikantenketten verdankt, was unterschiedliche Diskurse und Technologien verknüpft, was durch Techniken der collage, des samplings, des Bastelns zustandegekommen ist“, wie Bronfen, Marius und Steffen schreiben. An die Stelle von Werten wie Eigentlichkeit, Ursprünglichkeit, Einsprachigkeit oder Reinheit von Kultur treten in diesem Konzept die Vermischung, das „Dazwischen“, das Leben auf der Grenze. Dieser „dritte Raum“ muss aber erst geschaffen werden, man kann sich nicht auf ihn zurückbeziehen: „Während einst die Weitergabe nationaler Traditionen das Hauptthema einer Weltliteratur war, können wir jetzt möglicherweise annehmen, dass transnationale Geschichten von Migranten, Kolonisierten oder politischen Flüchtlingen – diese Grenzlagen – die Gebiete der Weltliteratur sein könnten. Im Zentrum einer solchen Studie stünde weder die ‘Souveränität’ nationaler Kulturen noch der Universalismus menschlicher Kultur“, schreibt Bhaba.
Hier wird die Rolle der heimatlosen Intellektuellen aufgegriffen, die zwischen Globalisierungs-, Regionalisierungs- und Migrationsbewegungen umhergetrieben werden. Ihnen wird hier eine besondere Bedeutung zugeschrieben, weil sie die „double vision“ auf der Grenze zwischen zwei Kulturen besitzen. Autoren wie Salman Rushdie, Toni Morrison oder V.S. Naipaul könnten es sich in ihrer grenzüberschreitenden Außenseiter-Position leisten, gleichzeitig den hegemonialen Diskurs zu verweigern (abrogation) wie auch einen indigenen aufzunehmen (appropriation). Dies habe eine dynamische Hybridität des „rereading“ und des „rewriting“ zur Folge, eine Intertextualität der Kulturen.
Auf der Grenze zwischen der „Alten“ und der „Neuen Welt“ befinden sich auch viele AutorInnen, die Kinder- und Jugendliteratur schreiben. So findet sich etwa ein besonderer Motivstrang in bemerkenswerter Häufigkeit: Die Tochter bleibt in einem Land der südlichen Kontinente, die Mutter verlässt die Familie, um in Europa ihr Glück zu machen. Hier lassen sich folgende Beispiele anführen: Gisèle Pineaus „Ein Schmetterling in der Vorstadt“ (2002), Paulette Ramsays „Alles Liebe, deine Sunshine“ (2005) und Lensey Namiokas „Ein Meer dazwischen, eine Welt entfernt“(2004).
Dieses „Schreiben zwischen den Welten“ lässt sich meist einfach biografisch erklären. Die Autorinnen (es handelt sich in diesem Fall immer um Frauen) haben selbst einen Teil ihres Lebens in Europa verlebt und reflektieren diese Erfahrung literarisch. Auffällig ist, dass in jedem Fall das bei den Großeltern verbleibende Kind, mit dem sich der jugendliche Leser identifizieren soll, die Kultur und die Werte der „Heimat“ in idealisierender Weise repräsentiert, die Tochter versucht die Mutter davon zu überzeugen, dass die von ihr verlassene Kultur wertvoller ist als die westliche.
Es ist bei allen drei Büchern die Frage zu stellen, an wen sich die Autorinnen eigentlich richten. Schreiben sie für Jugendliche in ihrem (Herkunfts-)Land? Dann ist ihr Schreiben eine Warnung vor den Werten des europäischen Kontinents und eine Bestärkung, sich doch mit ihrer Tradition und der eigenen (idealisierten) Welt zufrieden zu geben. Richten sie sich an Jugendliche in Europa? Dann ist ihr Schreiben als Kritik an Europa zu sehen und als Appell, andere Länder kennen zu lernen beziehungsweise die Kultur von Immigranten zu ehren.
Als Wandererin zwischen den Welten par excellence gilt auch Marjane Satrapi, deren Comic „Persepolis“ aus dem Jahr 2004 autobiografische Erfahrungen zwischen Österreich, Frankreich und dem Iran aufgreift und der mittlerweile auch erfolgreich verfilmt wurde. Schon das Medium des Comics kann als Assimilation an das Gastland Frankreich gesehen werden, wo der Comic auch für die Jugendliteratur eine wichtige Rolle spielt. Satrapi zeigt hier genau die von Bhaba beschriebene Rolle einer Intellektuellen, die zwischen den Kulturen vermitteln kann, deren Identität sich nicht mehr als „persisch“ oder „europäisch“ definieren lässt.
Eine ganze Reihe von AutorInnen gehen aber noch einen Schritt weiter auf die Kultur der Metropole zu, sie stellen explizit die Kulturen der Immigranten ins Zentrum. Dazu gehören Bücher wie „Yoruba Mädchen tanzend“ der nigerianischen Autorin Simi Bedford, die das Leben in Afrika nur am Rande darstellt, statt dessen aber die abweisende Kultur in England kritisiert. Auch die Südafrikanerin Beverley Naidoo stellt in „Die andere Wahrheit“ (2005) die Probleme dar, die die nigerianischen Geschwister Sade und Femi bekommen, als sie ohne gültige Aufenthaltsberechtigung nach England reisen.
In Büchern wie diesen, nehmen AutorInnen aus den südlichen Kontinenten ihre ursprüngliche Kultur nur noch kontrastiv auf, indem sie das Leben in den europäischen Metropolen kritisch vergleichen mit Werten einer oft idealisierten post-kolonialen Gesellschaft.
Noch weiter gehen zwei erfolgreiche Übersetzungen aus dem Französischen: „Paradiesische Aussichten“ von Faiza Guène (2006) und „Total verrückt“ von Jean-Paul Nozière (2007). Hier haben die Vertreter der „Beurs“, der Immigranten der zweiten oder dritten Generation, kaum noch Erinnerungen oder Bezüge zu dem Herkunftsland ihrer Eltern oder Großeltern. Sie fühlen sich nicht wohl in einer Gesellschaft, die sie als Außenseiter sieht, aber sie haben auch keine Wurzeln mehr in den Traditionen einer anderen Kultur. Sie sind es, die wirkliche Hybridität verkörpern, im positiven, aber auch im negativen Sinn.
Es ist sicher kein Zufall, dass fast alle Texte zu den südlichen Kontinenten Übersetzungen aus dem Englischen oder Französischen sind. Deutsche Kinder müssten sich nicht mit der kolonialen Vergangenheit auseinandersetzen – Deutschland sei nie eine große Kolonialmacht gewesen, so wird oft argumentiert. Abgesehen davon, dass dies historisch nicht stimmt, wird dabei übersehen, dass der koloniale Diskurs in keinem Teil der Erde ohne Wirkung blieb.
Nun wurde oben schon gezeigt, dass das Thema der Südlichen Kontinente in Zeiten der Globalisierung von europäischen und amerikanischen AutorInnen neu aufgegriffen wird. Dabei gehen sie in der Regel den Weg des Hineinversetzens in die Perspektive des „Fremden“.
Einen ganz anderen Weg geht Dolf Verroen in seinem Jugendbuch „Wie schön weiß ich bin“. Es ist 2005 im Peter Hammer Verlag auf deutsch erschienen und im Jahr 2006 ausgezeichnet mit dem „Deutschen Jugendliteraturpreis“ und dem „Gustav-Heinemann-Friedenspreis für Kinder- und Jugendliteratur“. Verroen lässt Maria, ein Mädchen aus Niederländisch-Guyana, dem heutigen Surinam in Südamerika in Tagebucheinträgen über ihren Alltag berichten. Zu ihrem zwölften Geburtstag erhält sie eine Perlenkette, eine Handtasche und eine Peitsche und als besondere Überraschung Koko, ihren ersten Sklaven. Ihre Sprache ist kurz und stakkatohaft, lakonisch gibt sie die Ideologie der weißen Farmer wieder, für die Sklaven einerseits Grundlage ihres wirtschaftlichen Erfolgs sind, andererseits Zeitvertreib und Spielzeug.
Mein neues Kleid war schon wieder alt,
schon dreimal getragen.
Und immer noch kein Busen.
Er ist süß, sagte Tante Amy.
Passt haargenau zu deinem Teint.
Das hörte ich nicht gern.
Meine Haut ist so hässlich gelb.
Koko stand hinter meinem Stuhl.
Steh gerade, sagte Mama. […]
Ja, Maria, sagte Tante Amy.
Erzieh ihn dir gut.
Lässt man ihnen zu viel Freiheit,
dann bereut man es später.
So ist es, sagte Tante Elisabeth.
Vergiss nicht:
Sie kommen aus Afrika.
Obwohl die Ich-Erzählerin naiv-unbefangen über ihr Leben berichtet, können deutsche Leser sich nicht mit ihr identifizieren: Zu fremd erscheint ihre Haltung, politisch nicht korrekt ihre offen rassistischen Reflexionen. Sie schlägt Koko, weil er sie aus Versehen geweckt hat, hält ihn für „dumm, dumm, dumm“, weil er nicht weiß, wo er geboren wurde, und als er seinen Reiz als Spielzeug verloren hat, tauscht sie ihn ein gegen ein Sklavenmädchen. Verroens Buch ist deshalb auch nur schwer für eine bestimmte Altersstufe einzuordnen. Die Kürze des Buches, seine einfache Sprache und die naiven Reflexionen lassen es auf den ersten Blick als Kinderbuch erscheinen. Erst Jugendliche aber sind in der Lage, hinter der emotionslosen Fassade die untergründige Gewalt zu erkennen, die die weiße Kolonialgesellschaft bestimmt. Die Unterdrückung der Sklaven ist hier selbstverständlicher Bestandteil der Frauenwelt, zu der auch Maria gehört. Und gleichzeitig wird deutlich, dass die Frauen selbst Opfer der Männer sind, sie müssen ertragen, wenn sich ihre Ehemänner schwarze Sklavinnen als Geliebte halten, erst nachträglich können sie sich an diesen Skavinnen, nicht aber an den Männern rächen. Maria beschreibt das, was sie beobachtet, ohne es wirklich zu reflektieren, zu selbstverständlich sind ihr die rassistischen Muster der Gewalt.
Verroen reagiert mit seinem Buch auf die Herausforderungen der postkolonialen AutorInnen der Peripherie: Gerade die Naivität des Kinderbuches entlarvt den Kolonialismus als persistentes Denk- und Handlungsmuster der Unterdrücker. Umso beklemmender wirkt dieses Buch, denn es zeigt keinen Ausweg auf, sondern verweist nur auf unsere Gegenwart.
Zu vergleichen wäre seine Herangehensweise mit der, die John Boyne in seinem „Der Junge im gestreiften Pyjama“ wählt: Auch hier wird durch den unschuldigen Blick des Kindes der Wahnsinn eines unterdrückerischen Systems verdeutlicht, hier der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Anders als in Boynes Buch, wo der Ich-Erzähler in der Beobachtung der Unterdrückung überfordert ist und die „verrückte“ Welt der Erwachsenen nicht nachvollziehen kann, nimmt aber Maria selbstverständlich an der Unterdrückung teil. Ihre einzigen Interessen sind dieselben, wie sie Jugendliche ihres Alters auch heute noch haben: „Wächst mein Busen schnell genug?“, „Bin ich verliebt?“, „Wann werde ich wie eine Erwachsene behandelt?“
In drei Schlaglichtern soll abschließend gezeigt werden, welche Möglichkeiten der Didaktisierung sich für die postkoloniale Literatur in der Schule bieten.
Nur wenige Bücher aus den südlichen Kontinenten verkaufen sich in Deutschland so gut, dass sie als preiswerte Taschenbücher herausgegeben werden und deshalb in Klassensätzen oder für die Schulbibliothek angeschafft werden. Es bietet sich also bei diesem Thema an, auf die Ausstellung „Guck mal übern Tellerrand – lies mal, wie die andern leben“ zurückzugreifen, die von „Litprom“ angeboten wird. Sie besteht aus bis zu 90 meist aktuellen Büchern aus und zu den Südlichen Kontinenten. Die Arbeit mit Ausstellungen orientiert sich an dem Konzept eines „offenen Leseunterrichts“, bei dem sich die Schüler/innen ihre Bücher auswählen können und auch möglicherweise wieder weglegen dürfen, wenn sie ihnen nicht gefallen. Damit kommt man den verschiedenen Interessen von unterschiedlichsten Leser eher entgegen, als wenn eine bestimmte Lektüre für die gesamte Klasse festgelegt wird.
Gute Ergebnisse wurden dabei etwa mit Lese-Marathons erzielt, bei denen die Schüler/innen jeweils die ersten zehn Seiten von ausliegenden Büchern lesen und dann nach ihren Vorlieben auswählen und weiter lesen. Schüler geben zu jedem Buch, das sie anfangen, einen Kurzkommentar ab (Welches Thema? Für welche Altersgruppe? Spannend? Informativ? Gut geschrieben?). Weitere Leser/innen können so ihre eigene Einschätzung mit der anderer vergleichen, was insbesondere für Schüler und Schülerinnen verschiedener Altersstufen von besonderem Interesse ist.
Besonders im fächerübergreifenden Unterricht ist das Arbeiten in Projekten möglich. Die Schüler können sich in ihrer Lektüre mit bestimmten Problemgebieten beschäftigen, etwa mit Kinderarbeit, mit der Religion oder der Stellung von Mädchen in verschiedenen Kulturen und dazu individuell verschiedene Bücher lesen. Eine interkulturelle Herangehensweise im Literaturunterricht führt zu einer Überschreitung der Fachgrenzen, da man oft mit anderen Fächern kooperiert (vor allem Fremdsprachen, Geschichte, Erdkunde). Außerdem kommt es auch medial zu einer Öffnung, da Filme, Musik, Kunst, kulinarische und andere sinnliche Erfahrungen den Unterricht bereichern, was eher einem kulturwissenschaftlichen Zugang entspricht.
Wie unter anderem die Dissertation von Kodjo Attikpoe zeigt, finden sich bis in die heutige Zeit Stereotypen, die aufzuarbeiten wären. Insbesondere Peter Bräunlein verweist auf Möglichkeiten, diese Stereotypen auch didaktisch aufzuarbeiten: Sie sollen im Unterricht nicht tabuisiert, sondern bewusst entlarvt werden. An einem Beispiel kann vorgeführt werden, wie durch einen Perspektivwechsel europäische Wahrnehmung reflektiert wird: Ein Beispiel ist folgende Horizonterweiterung: Die Klasse setzt sich kritisch mit einem Text auseinander, der von deutschen Entwicklungshelfern im Auftrag des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit geschrieben wurde. In dem Bilderbuch „Aminatas Entdeckung“ von Monika Bulang-Lörcher und Hans-Martin Große-Oetringhaus (1994) ist das Mädchen Aminata die einzige im Dorf, die versteht, dass die Durchfallerkrankung der Babys ihre Ursache darin hat, dass Ziegen den Dorfbrunnen verschmutzt haben, als sie aus ihm tranken. Menschen aus dem dargestellten Land, wie etwa der senegalesische Pädagoge Daouda Timéra, kritisieren dieses Buch als diskriminierend und sachlich falsch. Diese Kritik ist in dem Artikel Fremde Welt – Ein Spiegel unserer eigenen Welt? von Margret Wannemacher-Zehnder (1997) auszugsweise veröffentlicht und kann bei der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V. eingesehen werden (e-mail: ). Ältere Schüler könnten diese Diskussion aufgreifen.
Schrifsteller aus den ehemaligen Kolonien haben sich selbstbewusst die Märkte in englisch- und französischsprachigen Ländern erschrieben. In Deutschland werden sie nur zaghaft wahrgenommen – mühsam unterstützt durch die Aktion „Litprom“, die auch unter dem schwer aussprechbaren Namen „Gesellschaft zur Förderung von Literatur aus Asien, Afrika und Lateinamerika“ agiert. Daneben ist hier zu nennen die Arbeit des „Kinderbuchfonds Baobab“, einer Arbeitsstelle von terre des hommes Schweiz und der „Erklärung von Bern“. Diese Organisation gibt nunmehr in der 17. Ausgabe eine Empfehlungsliste mit Kinder- und Jugendbüchern aus und über „Fremde Welten“, das heißt über das Leben in den südlichen Kontinenten, aber auch über das Leben in der kulturell gemischten Gesellschaft in Europa. Bislang scheint es nur durch die bewusste Zuwendung zu dieser Art von Literatur von besonderen Organisationen, Verlagen oder Autoren dazu zu kommen, dass deutsche Jugendliche „über den Tellerrand schauen“.
Dieser Beitrag erschien erstmals in: literaturkritik.de: Probleme und Chancen der Interkulturalität. Nr. 12, Dezember 2009.
Primärliteratur:
Sekundärliteratur: