Die wissenschaftliche Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte hat in den letzten Jahren einen regelrechten Boom erlebt. Anders als bei früheren Zeiten guter Konjunktur zum Thema – Ende der 1960er-/ Anfang der 1970er-Jahre zum Beispiel – zeichnet sich der gegenwärtige historiographische Trend allerdings dadurch aus, dass er sich einerseits nicht allein auf ein akademisches Fachpublikum und andererseits nicht allein auf die Phase des "realexistierenden" Kolonialismus zwischen 1884 und dem Ersten Weltkrieg beschränkt.
Das vorliegende Buch von Karsten Linne, das im wesentlichen die Ergebnisse seiner vier Jahre zurückliegenden Dissertation einem breiteren Publikum zugänglich macht [1], steht somit in einem wissenschaftlichen Kontext, in dem sich bereits eine nicht unbeträchtliche Zahl anderer Autorinnen und Autoren drängen.[2] Darüber hinaus liegt mit Klaus Hildebrands nach wie vor unentbehrlichem „Vom Reich zum Weltreich“ seit nunmehr 40 Jahren eine umfangreiche Monographie zum Thema der nationalsozialistischen Kolonialplanungen vor.[3]
Man muss sich also fragen, inwieweit Linnes Studie über die Popularisierung gewisser arcana academiae hinaus einen wirklich neuen Beitrag zum Forschungsfeld Deutscher Kolonialismus und zur deutschen Geschichte allgemein leistet. Um es vorweg zu nehmen: Leserinnen und Leser, die bereits mit Linnes Doktorarbeit oder seinen in der Zwischenzeit veröffentlichten Aufsätzen vertraut sind [4], werden aus „Deutschland jenseits des Äquators?“ wenig neue Daten und Details erfahren, die sie nicht auch schon aus seinen früheren Studien kennen. Wer aber die Dissertation, die seinerzeit ‚nur‘ als „book on demand" erschienen ist, oder die Aufsätze des Autors bislang nicht zur Kenntnis genommen hat, dürfte seine neueste Publikation mit einigem Gewinn lesen.
Die auf umfangreichem Quellenmaterial basierende und durch zahlreiche, zumeist sehr gut ausgewählte Illustrationen ergänzte Darstellung beginnt mit einem kurzen Abriss des Kolonialrevisionismus während der Weimarer Republik und während der ersten Jahre des "Dritten Reiches".
Darauf folgt eine ausführliche Analyse der vor allem wirtschafts-, arbeits- und sozialpolitischen Ordnungsvorstellungen der NS-Kolonialplaner unmittelbar vor und während des Zweiten Weltkrieges, die Linne schön in den Kontext ihrer sich wandelnden politischen Verwirklichungschancen einbettet. Dabei wird einerseits deutlich, wie intensiv im vermeintlich "nur" auf "Lebensraum" in Osteuropa schielenden "Dritten Reich" auch die laut Hitler der Vergangenheit angehörende überseeische Expansionspolitik weitergeführt wurde, andererseits aber auch, wie begrenzt die politischen Einflussmöglichkeiten der mit dieser "Fahrt über See" beschäftigten traditionellen Institutionen und Personen gegenüber den neuen, eingefleischt nationalsozialistischen Verfechtern eines "Ritts gen Osten" letztendlich waren.
Bis im Winter 1941/42 die deutsche Offensive gegen die Sowjetunion vor Moskau zum Erliegen kam, erschien eine erneute, auf ein großes Kolonialreich in Afrika fokussierte deutsche "Weltpolitik" nämlich durchaus als eine realistische Option, wenngleich nicht, wie ursprünglich von den "alten Kolonialen" im Kaiserreich und in den 1920er-Jahren meist verfochten, als Alternative, sondern nunmehr als Komplement einer Ausbreitung nach Osten.
Erst als sich mit Beginn einer sich anbahnenden Niederlage im Krieg das nationalsozialistische Regime zunehmend ideologisch verengte und immer mehr auf die nun gegen die Zeitläufte anzustrebende Verwirklichung der radikalsten Elemente von Hitlers ursprünglichem Programm konzentrierte, blieb für die in diesem Programm eigentlich nicht vorgesehenen Machtperspektiven der traditionellen Kolonialpolitiker kein Platz mehr. Nach der Niederlage von Stalingrad wurden die Kolonialplanungen für Afrika sang- und klanglos – wenngleich nicht ohne gewisse störrische Widerstände – eingestellt.
Indem Linne so die Imaginär- und die Realgeschichte des deutschen Nachkolonialismus verbindet, gelingt es ihm gut, die Bedeutung beider für die Konstruktion eines deutschen Weltverständnisses herauszustellen. Denn in den äußerst detaillierten Planspielen, die von Stellenbesetzungsplänen für eine in der Zukunft einzurichtende Kolonialverwaltung bis zu konkreten Gesetzesentwürfen zur Arbeits- und Sozialordnung der "Eingeborenen" reichten, entwarfen die Kolonialstrategen auch ein Selbstbild von der Rolle Deutschlands (und deutscher Kolonialherren) in der Welt.
Dabei glaubten sie sich bewusst von den Herrschaftsmethoden anderer Kolonialmächte abzugrenzen, welche sie oft als gefährlich für die weitere globale Vorrangstellung der "weißen Rasse", aber auch als defizitär in ihrer "Verpflichtung" gegenüber den Kolonisierten empfanden.
In ihren Entwürfen angeblich besserer deutscher kolonialer Herrschaftsmethoden mischten sich hierbei ein im Grunde wohlmeinender, aber stark paternalistisch gedachter Fürsorgebegriff, der mit "klassischen" nationalsozialistischen Ideologemen relativ wenig gemein hatte, mit auch für ihren historischen Kontext teilweise reichlich drastisch anmutenden Rassen- und Segregationsfantasien, die, wie Linne im Rückgriff vor allem auf die Arbeiten von Jürgen Zimmerer [5] zu zeigen versucht, nicht der nationalsozialistischen Obsession mit "Rasse" und "Rassenmischung" Rechnung trugen, sondern auf entsprechende Diskurse der aktiven deutschen Kolonialzeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückgingen.
Damit schufen die nationalsozialistischen Kolonialplaner halb bewusst, halb unbewusst eine Art Alternative zu den Vorstellungen Hitlers von Deutschlands Rolle in der Welt und bei der Neuordnung der Welt, die, so deutet Linne an, in teilweise nur leicht abgewandelter Form auch in der zeitgenössischen internationalen Diskussion über die Theorie und Praxis kolonialer Herrschaft durchaus anschlussfähig hätten sein können.
Kritiker des jüngst stark gewachsenen Interesses an der deutschen Kolonialgeschichte, die entweder der alten These von Deutschlands "marginalem Kolonialismus" (Lewis H. Gann) anhängen oder dem kulturwissenschaftlich geprägten, oft von postkolonialen Theorien inspirierten Forschungsprogrammen einer neuen Historikergeneration skeptisch gegenüberstehen, mögen einen solchen Ansatz, ganz gleich wie quellenintensiv er auch ist, als substanzlose Spielerei aus dem Elfenbeinturm beiseite schieben. Das wäre gerade im Fall von Linnes Buch allerdings schade (und auch verfehlt), denn es führt eine Thematik in die neuere Forschung zur deutschen Kolonialgeschichte ein, die dieser zwar geläufig sein sollte, von ihr aber häufig nur am Rande erwähnt wird: das Problem der Elitenkontinuität und ihrer Bedeutung für die Gesamtschau der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert.
Anders als in manch anderer neueren Arbeit haben nämlich die Diskurse, die Linne untersucht, in seiner Darstellung auch eindeutige Sprecherinnen und Sprecher, welche häufig ganz unabhängig von den realgeschichtlichen Konjunkturen des deutschen Kolonialismus politisch und ideologisch einflussreich waren und – nicht nur vom Kaiserreich zum Nationalsozialismus, sondern oft auch darüber hinaus – blieben. Linne illustriert dies sehr anschaulich in Form von zahlreichen biographischen Vignetten, die in Schaukästen den Haupttext des Buches begleiten.
Diese auf die Sonderweg-Debatte der 1970er- und 1980er-Jahre zurückverweisende Präzisierung der kolonialen Diskursgeschichte könnte insofern wegweisend sein, als sie die in den letzten Jahren in Anlehnung an Hannah Arendt populär gewordene These, dass der deutsche Kolonialismus vor dem Ersten Weltkrieg intellektuelle Prädispositionen schuf, die später in der rassistischen und genozidalen Besatzungspolitik des "Dritten Reiches" in Osteuropa verwirklicht wurden, historisch konkretisieren könnte.[6]
Denn Linne deutet an, dass diese Kontinuitätslinie, die von den Proponenten der These vor allem diskursanalytisch, aber selten biographisch begründet wird, vielleicht zu einfach gedacht ist. Der überseeische Kolonialismus des Kaiserreiches und die mit ihm verbundenen Ordnungsvorstellungen wirkten in der Tat unter deutschen Führungseliten auch nach dem Verlust des Kolonialreiches weiter; allerdings scheinen sie nicht einfach auf den zu erobernden osteuropäischen "Lebensraum" projiziert worden zu sein, sondern konzentrierten sich auch im Nationalsozialismus primär auf überseeische Gebiete, während die Ostpolitik der Kolonialskeptiker um Hitler, Rosenberg und andere offenbar auf andere Diskursstränge zurückgriff.
Dies sind letztendlich Fragen, die Linne im Rahmen seines Buches nicht erschöpfend beantworten konnte. Er hat allerdings mit seiner gründlichen Arbeit den Boden bereitet für eine vielleicht in näherer Zukunft zu bewältigende vergleichende Analyse der beiden Stoßrichtungen des deutschen Kolonialismus im späten 19. und 20. Jahrhundert. Das ist kein kleines Verdienst, und man möchte „Deutschland jenseits des Äquators?“ daher eine breite Rezeption wünschen. Neben Hildebrands 40 Jahre alter Studie dürfte das Buch jedenfalls künftig als ein Standardwerk zur nationalsozialistischen Kolonialpolitik gelten.
[1] Karsten Linne, "Weiße Arbeitsführer" im "kolonialen Ergänzungsraum". Afrika als Ziel sozial- und wirtschaftspolitischer Planungen in der NS-Zeit. Münster 2002.
[2] Einen guten, knappen Überblick über die Entwicklung der deutschen Kolonialgeschichtsschreibung bietet Sebastian Conrad, Germany and Its Colonies: Historiography, in: Prem Poddar / Rajeev S. Patke / Lars Jensen (Hrsg.), A Historical Companion to Postcolonial Literatures. Continental Europe and Its Empires, Edinburgh 2009, S. 237-240.
[3] Klaus Hildebrand, Vom Reich zum Weltreich. Hitler, NSDAP und koloniale Frage, München 1969. Vgl. auch die Arbeit von Alexandre Kum'a N'dumbé III, Hitler voulait l'Afrique. Le projet du IIIe Reich sur le continent africain, Paris 1980.
[4] Vgl. z.B. Karsten Linne, Aufstieg und Fall der Kolonialwissenschaften im Nationalsozialismus, in: Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 26 (2003), S. 275-284; ders., The "New Labour Policy" in Nazi Colonial Planning for Africa, in: International Review of Social History 49 (2004), S. 197-224.
[5] V.a. Jürgen Zimmerer, Deutsche Herrschaft über Afrikaner. Staatlicher Machtanspruch und Wirklichkeit im kolonialen Namibia, Münster 2001.
[6] Zu dieser mit Schlagworten wie "Von Afrika nach Auschwitz" oder "Von Windhuk nach Warschau" oft plakativ und provokant vorgetragene Argumentation, siehe z.B. Jürgen Zimmer, Die Geburt des Ostlandes aus dem Geist des Kolonialismus, in: Sozial.Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts 19 (2004), S. 10-43; Ders., Von Windhuk nach Warschau. Die rassische Privilegiengesellschaft in Deutsch-Südwestafrika. Ein Modell mit Zukunft?, in: Frank Becker (Hrsg.), Rassenmischehen – Mischehen – Rassentrennung. Zur Politik der Rasse im deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2004, S. 97-123; Benjamin Madley, From Africa to Auschwitz: How German Southwest Africa Incubated Ideas and Methods Adopted and Developed by the Nazis in Eastern Europe, in: European History Quartely 35 (2005), S. 429-464. Für eine kritische Würdigung dieser Thesen, siehe Robert Gerwarth / Stephan Malinowski, Der Holocaust als "kolonialer Genozid"? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), S. 439-466.
Diese Rezension erschien erstmals in: H-Soz-u-Kult, 31.07.2009, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-3-090
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