Nach den interessanten Ankündigungen in Deutschlands Blätterwald im Sommer 2008 war bei mir schon die Spannung gewachsen. Was haben sich die islamischen Autorinnen und Autoren gemeinsam mit Fachkräften der islamischen Religionspädagogik wohl ausgedacht? Was wird hier anders sein als bei den zahlreichen christlichen Religionsbüchern, die mir bekannt sind? Welche Richtung des Islam wird denn hier vertreten sein? Welche Inhalte werden den Kindern in diesem Buch angeboten?
Nun liegt das neue Schulbuch „Saphir“ endlich auf meinem Schreibtisch. Schmuck kommt es daher, man spürt, es geht hier um etwas Kostbares. Das zeigt schon die ansprechende Aufmachung: Die fünfzehn Kapitel werden durch edelsteinähnliche kalligraphische Elemente gekennzeichnet, sie enthalten thematisch passende Qur’an-Verse in Arabisch, mit deutscher Übersetzung. Kurze Impulssätze auf den Kapiteleinleitungsseiten wie „Einheit in Vielfalt“, „Wege zum Glück“ oder „Du bist ein Engel“ sind wohl als „Appetizer“ gedacht im Sinne von: „Darum geht es hier“. Sie sollen die Bedeutung des Themas in elementarisierter und eröffnender Weise zeigen.
Folgende Kapitelüberschriften kennzeichnen die Themen für das 5. und 6. Schuljahr:
(1) „Gott auf die Spur kommen“, (2) Glauben macht schön“, (3) „Geschöpf Gottes sein“, (4) „Gebet – mit Gott sprechen“, (5) „Engel sind überall“, (6) „Muhammad kam als Letzter“, (7) „Muhammad in Medina“, (8) „Vorbild sein – schaff ich das?“, (9) „Qur’an ... hier entlang!“, (10) „Viele Bücher – auf ein Wort“, (11) „Gleiches Recht für alle!“, (12) „Gott im Gegenüber begegnen“, (13) „Am Frieden arbeiten“, (14) „In Deutschland leben“, (15) „Warum und wie wir feiern“.
Sehr schnell fällt mir auf: Im ganzen Buch wird nirgends das Wort „Allah“ für Gott verwendet! Damit hätte ich nicht gerechnet. Statt dessen wird konsequent die deutsche Bezeichnung „Gott“ geschrieben, aber jeweils mit einem kleinen arabischen Zusatz versehen, der die Ehrerbietung beim Gebrauch des Gottesnamens sichtbar zum Ausdruck bringt. Ähnlich wird verfahren bei der Nennung des Gesandten Muhammad. Die Leser des Buches werden im Vorwort darauf vorbereitet. Übrigens wird im Buch fast gar nicht von „Propheten“ gesprochen, auch die im Qur’an erwähnten biblischen Personen sind „Gesandte“.
In der Struktur sind die Kapitel ähnlich aufgebaut. Jedes Kapitel hat 5-6 Unterthemen, die überschaubar, meist nach dem Doppelseitenprinzip, gegliedert sind. Große Bedeutung wurde der Bildgestaltung beigemessen. Hier wechseln beeindruckende Kalligraphien von Qur’an-Worten ab mit schön gezeichneten Bildern (auch Bildergeschichten) und attraktiven Fotos. Zu den einzelnen Materialien findet man Arbeitsanregungen, die in vielfältiger Form das schulische Lernen strukturieren und bereichern können. Manchmal sind es Fragen und Erkundungsaufgaben, oft auch Impulse, die zu weiteren Ideen und Projekten führen können. Je nach Thema ist der einzelne Schüler, die einzelne Schülerin Adressat der Aufgabe, oft ist auch die Klassen- und Schulgemeinschaft im Fokus.
Theologisch steht in diesem Buch für die Jahrgänge 5 und 6 die Gottesfrage am Anfang, es folgen die Themen Schöpfung, Gebet und Engel. Die Kapitel 6 – 10 stellen den Gesandten Muhammad vor und berichten über sein Wirken in Mekka und Medina. Es folgen zwei Kapitel über den Qur’an und die Schriften der verwandten Religionen Judentum und Christentum. Der dritte Teil des Buches ist besonders ethischen und sozialen Themen aus der Perspektive des Islam gewidmet.
Die Autorinnen und Autoren hatten bei diesem Werk implizit auch die große Vielfalt der muslimischen Kinder in unseren Schulen zu berücksichtigen. Schließlich gehören sunnitische, schiitische, alevitische und andere islamische Richtungen zur Zielgruppe. In den Geschichten und Situationsbeschreibungen werden die Herkunftsunterschiede nicht nivelliert. Auch hier wird der Blick auf das Gemeinsame und auf das Notwendige gerichtet.
Nicht alle Doppelseiten erschließen sich mir sofort. Für die Erarbeitung der Themen „Starke Frauen“ und „Kinder als Vorbilder“ ( S. 99/100) fehlen m. E. Konkretionen und Vertiefungen. Vielleicht kann da noch nachgebessert werden! Möglicherweise in unterrichtsergänzenden Materialien für Lehrkräfte.
Spaß macht es, mit den Formeln der christlichen und islamischen Zeitrechnung (S. 83) zu spielen. Eine gelungene Anregung! Das Lexikon am Schluss des Buches behandelt ausführlich Stichworte von „Auswanderung“ über „Engel“ bis zu „Wallfahrt“. Hier sind Möglichkeiten der Vertiefung gegeben. Lehrkräfte können diesen Materialfundus in unterschiedliche Arbeitssituationen einbeziehen. Die Impulse und Arbeitsanregungen sind differenziert und können situationsbezogen verwendet werden. Das Buch schreibt nichts vor, sondern regt an!
In den Erzählungen, Beispielen und Bildergeschichten wird erkennbar die Genderperspektive beachtet. Jungen und Mädchen kommen im Buch gleichberechtigt vor. Traditionsbedingte Schwierigkeiten in der Familie und Vorurteile im Umgang der Geschlechter miteinander kommen auch zur Sprache und werden altersgemäß und sensibel vom Qur’an bzw. von der Weisheit der Hadithen her erörtert. Ganz besonders fällt auf, dass Aspekte der Verantwortung füreinander und die Notwendigkeit des respektvollen und friedvollen Umgangs eine wichtige Rolle spielen. Die Autorinnen und Autoren machen so das religionspädagogische Anliegen deutlich: Glaube an Gott und eine entsprechende Lebenspraxis hängen untrennbar zusammen. Jedoch wird hier nicht der pädagogische Zeigefinger hervor geholt; vielmehr zielen die Beispiele und Anregungen auf Einsicht, Verständnis und persönliche Problemlösungsfähigkeit (z.B. S. 104: „Den eigenen Weg finden“).
Das Schulbuch „Saphir“ malt dabei jedoch keine heile Welt. Alltagsprobleme der Schülerinnen und Schüler kommen zur Sprache, Situationen der Ausgrenzung und des Fremdseins werden an Beispielen erörtert, und Lösungsmöglichkeiten sollen gefunden werden. Dabei geht der Blick auch auf globale Probleme wie z.B. Hunger, Ungerechtigkeit und Krieg, die von zahlreichen Migrantenkindern häufig hautnah erlebt wurden.
Wie steht es mit den anderen Religionen in „Saphir“? An etlichen Stellen finden sich in Bildern und Texten Querverweise zum Judentum und zum Christentum, besonders bei den Schriften und den Berichten von den Gesandten. In religionskundlicher und interreligiöser Hinsicht sticht besonders Kapitel 14 hervor: „In Deutschland leben“. Religionsdiagramme, Bilder mit religiösen Symbolen und Anregungen für interreligiöse Kalender sind Beispiele des integrativen Ansatzes, der sich durch das ganze Buch zieht. „Glaube verbindet“ (vgl. 168 f), auch wenn viele Unterschiede da sind! Diese zu achten und doch auch zu Gemeinsamkeiten zu finden, ist eine zentrale Absicht des Buches, die klar „rüberkommt“.-
Zweiter Durchgang ..., dritter Durchgang durch „Saphir“ ... Ich hab’ sie immer noch nicht gefunden! ... Wissen Sie, wonach ich lange gesucht habe? Nach einem Kapitel über die „Fünf Säulen des Islam“. Ich war es so gewohnt, dass unsere Religionsbücher immer wieder selbstverständlich die Fünf Säulen des Islam „rauf- und runterdeklinieren“. Sie mussten doch gerade in einem islamischen Religionsbuch zu finden sein! Schließlich entdeckte ich, dass den Autorinnen und Autoren hier etwas ganz anderes eingefallen ist: sie benutzen das Bild einer geöffneten Hand mit fünf Fingern (141). Passend zur Symbolik der Finger können sich die Schülerinnen und Schüler zwei Seiten zuvor mit der vielfältigen Tiefenbedeutung der Hände in unserem Alltag in Bildern und praktischen Übungen beschäftigen (S. 139). Das Thema heißt „Gottes Gebote beachten“. Fünf Schwerpunkte des Glaubens und der Glaubenspraxis werden sowohl in Bildern dargestellt, als auch in der Ich-Form beschrieben. Mir gefällt das lebendige Bild der Hand viel besser als die statische Wirkung von Säulen. Gottes Gebote sind so als Angebote zu verstehen, wie man als Muslim leben sollte: „Ich achte Gott, indem ich IHN anerkenne ...“ (Glaubensbekenntnis); „Ich achte Gott, indem ich mich IHM anvertraue“ (Gebet) usw. - Die weiteren Entsprechungen finden Sie sicher selbst heraus!
An dem zuletzt genannten Thema wird beispielhaft deutlich, dass das neue Schulbuch „Saphir“ religionsdidaktisch äußerst sorgfältig angelegt ist. Die große Gruppe der muslimischen Schülerinnen und Schüler in Deutschland erhält hier ein wegweisendes Werk, das viel zur Verständigung, zur Bildung und zum interreligiösen Dialog beitragen kann. Neben der Verwendung in Gruppen und Klassen für den Islamunterricht kann ich mir gut vorstellen, dass auch evangelische und katholische Schülergruppen mit diesem Buch gewinnbringend in der Schule arbeiten können. Gemeinsame Unterrichtsphasen sind dann denkbar und tragen zur Verständigung bei. Religion kann man ja auch ein gutes Stück gemeinsam lernen. Mit solch einem Schmuckstück jedenfalls besonders gut!
Dr. Manfred Spieß ist in der Ausbildung von Religionspädagogen an der Universität Bremen tätig.
Diese Rezension wurde erstmals am 5.9.2008 auf der überkonfessionellen Plattform für Religionspädagogik und Religionsunterricht der evangelischen Kirche in Deutschland (rpi-virtuell) veröffentlicht.