Friederike Wille erarbeitete geschichtsdidaktische Kriterien um Kinderbücher über Holocaust und Nationalsozialismus zu analysieren, in Hinblick auf deren Fähigkeit ein kritisches Geschichtsbewusstsein bei Kindern zu unterstützen.
Ausgehend von den sieben Dimensionen des Geschichtsbewusstseins nach Hans-Jürgen Pandel leitet sie ihre Kriterien ab. Dabei liegt der Schwerpunkt auf den drei Basisdimensionen des Zeit- Wirklichkeits- und Historizitätsbewusstseins. Anhand der entwickelten Kriterien folgt die Analyse der beiden Kinderbücher Judith und Lisa von Antoinette Becker und Ich bin ein Stern von Inge Auerbacher.
In dem Kinderbuch Judith und Lisa wird die Freundschaft zweier Mädchen während des Nationalsozialismus erzählt. Mit der Machtergreifung Hitlers wird in der Schule, als auch in den beiden Familien der jüdische Glauben Judiths Familie relevant. In der Schule wird sie zunehmend ausgegrenzt, eine Zeit lang hält Lisa zu ihr, bis auch sie Judith eines Tages als „Judenmädchen“ beschimpft. Nach der "Reichskristallnacht" ist die Familie von Judith nicht mehr da und Lisa findet sie auch nie wieder. Es bleibt offen, was mit der Familie von Judith geschehen ist, der Holocaust wird nicht thematisiert.
Das Buch Ich bin ein Stern erzählt die Kindheit von Inge Auerbacher, die 1934 im schwäbischen Kippenheim geboren wurde und im Mai 1946 mit ihrer Familie nach Amerika auswanderte. Inge Auerbacher schildert zunächst ihre Kindheit in Kippenheim, bevor die Familie Anfang der 40er Jahre in ein Judenhaus umziehen muss und 1942 nach Theresienstadt deportiert wird. Inge Auerbacher und ihre Eltern überleben. Aus der Kinderperspektive beschreibt sie sehr detailliert, was sie in Theresienstadt erlebte.
Wille beschreibt den gegenwärtigen Umgang mit Kinderliteratur in der Grundschule, wobei sie zwischen Deutsch- und Sachunterricht differenziert. In den Klassenstufen 1- 4 liegt das Schwergewicht im Deutschunterricht auf der Spannungs- und Abenteuerliteratur, ab Klasse 5 auf der problemorientierten, realistischen Kinderliteratur. Dieser Anteil nimmt in den höheren Klassestufen zu. Es besteht ein „heimlicher Literaturkanon“, denn es werden immer wieder dieselben Bücher gelesen, alle erschienen zwischen 1970 und 1980. Generell nehmen zeitgeschichtliche Romane über Nationalsozialismus und/oder Holocaust in den Klassenstufen fünf bis sieben einen hohen Stellenwert im Kanon der am meisten im Unterricht gelesenen Bücher ein. Hier werden seit Jahren die gleichen Bücher gelesen: Damals war es Friedrich, Als Hitler das rosa Kaninchen stahl und Der gelbe Vogel.
Entgegen einer weit verbreiteten Annahme in der Geschichtsdidaktik, stellt Wille fest, dass auch junge Kinder in der Lage sind, sich mit Geschichte zu befassen, auch wenn sie noch nicht über ein ausgeprägtes Zeitbewusstsein verfügen. Das Buch Ich bin ein Stern bietet in dieser Hinsicht ein gelungenes Beispiel dafür, wie die Dimensionen von früher und heute eingeflochten werden können, indem die Autorin Inge Auerbacher erzählt, dass sie im Jahr 1942, als sie in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert wurde, sieben Jahre alt war, und „viele Jahre seit jenen Ereignissen in meiner Kindheit vergangen“ sind. Die Kinder erfahren zu dem, dass Inge Auerbach heute in den USA.
Inge Auerbach datiert viele Ereignisse genau, so z. B. ihren Geburtstag, der Tag an dem das Dorf zerstört wurde ("Reichskristallnacht") oder der Tag an dem sie nach Theresienstadt deportiert wurde. Die Erzählung Judith und Lisa verzichtet jedoch fast gänzlich auf zeitliche Einordnungen, lediglich die Verwendung der Vergangenheitsform deutet den Nationalsozialismus hin. Wille kritisiert daran, dass bewusst darauf verzichtet wurde, die beiden Mädchen altern zu lassen, obwohl das Buch eine Zeitspanne von 9 Jahren behandelt. Dies wirke sich kontraproduktiv auf die Herausbildung eines Zeitbewusstseins aus.
Ich bin ein Stern fördere durch die Abbildung von Fotos und Originaldokumenten aus Inge Auerbachers Leben das Wirklichkeitsbewusstsein der Schüler, so Wille. „So erzählt Inge Auerbach nicht nur ihre Geschichte, die sich „wirklich“ zugetragen hat, sondern gibt durch Originalquellen die Möglichkeit, sich das Früher vorstellen zu können.“
In Hinblick auf die heute bei den Kindern teilweise noch immer bestehende Überzeugung, dass es sich bei den Juden nicht um Deutsche handelte, wäre ein Hinweis darauf, dass Judith und ihre Familie genauso Deutsche sind wie Lisas Familie, wünschenswert, so Willes Befund. Dass Judith bezüglich ihrer Haarfarbe dem Bild entspricht, welches die Lehrerin von „dem Juden“ beschreibt (dunkle Haare), während alle anderen Kinder in dem Buch blonde Haare und blaue Augen haben, ist jedoch äußerst unglücklich. Diese äußere Stereotypisierung steht der Förderung des kritischen Identitätsbewusstseins entgegen, wie Wille feststellt.
In Ich bin ein Stern verdeutlicht Auerbacher, dass eine solche Unterscheidung bis zu den Rassengesetzen keine Rolle spielte. Inge Auerbach zeigt das Bild ihres Vaters als Soldat und berichtet, dass dieser im ersten Weltkrieg diente. An dieser Stelle wird die deutsche Staatsangehörigkeit des Vaters und der Familie betont.
Wille kritisiert die Bezeichnung „böser Kaiser“, die Antoinette Becker für Hitler verwendet, denn diese Bezeichnung fördere einen Hitlerzentrismus bei Kindern.
Adolf Hitler spielt als Person in der Geschichte Inge Auerbachs dagegen überhaupt keine Rolle. Dies ermöglicht eine Wahrnehmung von Machtstrukturen während des Nationalsozialismus bei den Kindern zu fördern, welche sich nicht auf die Person
Adolf Hitlers konzentriert, sonder die Komplexität in Ansätzen verdeutlicht.
Friederike Willes Analyse der beiden Kinderbücher und insbesondere die Erarbeitung von Kriterien um Kinderliteratur kritisch zu untersuchen, leistet einen wertvollen Beitrag für die Geschichtsdidaktik und befähigt Lehrkräfte Neuerscheinungen und Klassiker der Kinderliteratur zu hinterfragen und Altbewährtes womöglich auszusortieren.
Zur Publikation von Friederike Wille (PDF-Dokument).