Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass sich nach im Anschluss an den Holocaust in Deutschland erneut so etwas wie ein jüdisches Leben entwickelt hat. Umso bemerkenswerter ist der Umstand, dass 64 Jahre nach der Zerschlagung Nazi-Deutschlands jüdische Identitäten in Deutschland ein Thema für eine Promotionsarbeit sein kann.
Sicherlich, es existieren prominente wissenschaftliche Einrichtungen zur Erforschung jüdischer Geschichte und Kultur, wie das Simon Dubnow Institut in Leipzig oder das Moses Mendelssohn Zentrum in Potsdam, um nur zwei renommierte Institutionen zu nennen und auch im Bereich der populären Kultur ist jüdisches Leben mehr als nur en vogue. Trotzdem ist die wissenschaftliche Beschäftigung mit Identitätsentwürfen von Juden in Deutschland nach 1945 eine Besonderheit und der Forschungsstand ist – vor allem auf die DDR bezogen – recht spärlich.
Die Autorin Stephanie Tauchert untersucht in ihrer Promotionsarbeit die Entwicklung von jüdischen Identitäten in Deutschland ab 1950, also ab einem Zeitpunkt, zu dem sich nach ihrer Ansicht von einem „jüdischen Selbstverständnis in Deutschland“ (S. 12) sprechen lässt.
Eine Besonderheit der Untersuchung stellen die breite Quellenbasis dar und der lange Zeitraum der vergleichenden Betrachtung jüdischen Lebens in beiden deutschen Staaten sowie nach der Widervereinigung dar. Die Verfasserin geht der Hypothese nach, dass sich das individuelle und kollektive Selbstverständnis der Juden in Deutschland seit den 50er Jahren grundlegend geändert habe. Vor allem die erste Generation, also die Überlebenden der Shoa, sei durch eine auf der Verfolgungserfahrung gründende kollektive Identität geprägt. Demgegenüber habe die zweite Generation ein Selbstverständnis entwickelt, dass sich um Rückgriffe auf spezifisch jüdische Werte bemühe. Gemeinsame Identitätsentwürfe für die dritte Generation, die stark durch die Zuwanderung geprägt ist, ließen sich aufgrund der beschränkten Quellenlage kaum treffen. Allerdings stellt die Autorin eine Tendenz zu einem unproblematischeren Verhältnis zur eigenen Identität fest.
Die Quellen, die sie für ihre Untersuchung heranzieht gliedern sich in drei Gruppen: Dazu gehören die Zeitungen des Zentralrats der Juden in Deutschland, die über die Jahrzehnte unter wechselnden Namen herausgegeben werden, derzeit als „Jüdische Allgemeine. Wochenzeitung für Politik, Kultur, Religion und Jüdisches Leben“. Das Äquivalent in der DDR stellt das „Nachrichtenblatt der Jüdsichen Gemeinden in der Deutschen Demokratischen Republik“ dar. Als zweite Quellengruppe zieht die Autorin private Äußerungen von Jüdinnen und Juden heran, die vornehmlich aus lebensgeschichtlichen Interviews und autobiografischen Aufzeichnungen stammen. Als letzte Gruppe nennt Tauchert unveröffentlichte Archivbestände des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR und des Zentralrats der Juden in Deutschland aus dem Berliner Centrum Judaicuim und Heidelberger Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland.
Stephanie Tauchert stellt einen markanten Unterschied zwischen den privaten und den öffentlichen Äußerungen von Juden der ersten Generation in beiden deutschen Staaten fest, während sich die Stellungnahmen mit privatem Charakter grenzüberschreitend kaum unterscheiden würden. So präge die „antifaschistische Grundordnung der DDR (…) ein äußerlich ungebrochenes Verhältnis der ersten Generation zu ihrem Aufenthaltsland“ (S. 345), dies führe „aber ebenso wenig zu selbstverständlicher emotionaler Verbundenheit der Überlebenden mit Deutschland wie das bundesrepublikanische Staats- und Gesellschaftsystem.“ (ebda.)
Für Jüdinnen und Juden der zweiten Generation ließen sich weniger Unterschiede zwischen dem offiziellen und dem privaten jüdischen Selbstverständnis ausmachen. Die staatlichen und die familiären Bezugsrahmen seien für Juden in beiden Staaten zurückgetreten und sie seien zu einer „eigenständigen, rational reflektierten jüdischen Identität“ gelangt. Für die zweite und dritte Generation könne laut Tauchert gesagt werden, dass jüdischeExistenz in Deutschland nicht mehr in Frage stehe. Das bedeute jedoch im Umkehrschluss noch nicht, dass die Mehrzahl den Begriff der Heimat oder des Zuhauses in Deutschland anzuwenden bereit wäre (vgl. S. 348). Die Verfolgungserfahrung und die Shoah werden mit zunehmendem generationellem Abstand weniger prägend für die kollektive Identität, ohne dabei dem Vergessen anheim zu fallen. Jüdischsein wird durch die Jüngeren zunehmend positiv besetzt. Antisemitismus spielt sich für die Angehörigen der zweiten Generation weitgehend außerhalb der eigenen Erfahrung ab, folgt man der Autorin. Bei einem seit Jahrzehnten beinahe konstanten Anteil von ungefähren zwanzig Prozent an antisemitisch eingestellten Personen in Deutschland verwundert eine solche Feststellung. Weniger verwunderlich erscheint der kritische Blick auf den weit verbreiteten Philosemitismus, der aus den Quellen spricht.
Das letztgenannte Beispiel verweist auf eine Schwachstelle der vorliegenden Arbeit. Die Auswahl der Quellen hat, bei all ihrer lobenswerten Breite, eine Problematik: Da die Autorin keine eigenen Erhebungen durchgeführt hat, sondern im Ergebnis ausschließlich bereits vorliegende schriftliche Quellen interpretiert, kommen nur ein Personenkreis zur Sprache, der sich in irgendeiner Form öffentlich oder in den Gremien der jüdischen Repräsentanzen geäußert hat. Damit kommen einfache Gemeindemitglieder sowie Jüdinnen und Juden, die sich nicht prominent oder in Schriftzeugnissen geäußert haben kaum bis gar nicht zur Sprache.
Trotz dieses Einwandes und der manchmal etwas trockenen Sprache lässt sich „Jüdische Identitäten in Deutschland“ mit Gewinn lesen. Vor allem der Vergleich zwischen den jüdischen Lebenswelten in der Bundesrepublik und der DDR ist für einen Gesamteindruck von jüdischer Erfahrung von hohem Wert. Angenehm ist der weitgehend ideologiefreie Blick der Autorin auf beide deutsche Staatsformen. Daher kommt wird den Lesenden ein differenziertes Bild von Judentum in Deutschland, sowie von den Zweifeln und Ambivalenzen einer jüdischen Selbstverortung im Land der Täter und den unterschiedlichen Realbedingungen des Gemeindelebens in der Bundesrepublik und in der DDR dargelegt.