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Seit 1992 hat die Bildungsabteilung der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin verschiedene Projektvariationen ein- und zweitägiger Seminare für die Berufsgruppe Kranken- und Altenpflege/Pflegemanagement und Auszubildende in diesen Berufen entwickelt und durchgeführt, die zum Ziel haben, Berufstätige, aber auch Auszubildende mit ihrer jeweiligen Berufsgeschichte in der NS-Zeit zu konfrontieren.
Für die Berufsgruppen des öffentlichen Dienstes, zu denen auch die Gesundheitsverwaltung gehört, wurde eigens ein Konzept für ein- und mehrtägige Seminarprogramme entwickelt, in denen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Gelegenheit gegeben wird, die nationalsozialistische Verfolgungs- und Völkermordpolitik auf der Basis von Dokumenten als arbeitsteilige Verwaltungsvorgänge zu analysieren. So erkennen sie, dass ganz normale Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes an den Massenmorden direkt und indirekt beteiligt waren. Dabei stellen sich zwangsläufig Fragen, inwieweit allgemeine Verwaltungsstrukturen und berufsspezifische Denk- und Verhaltensweisen Voraussetzungen für die weitgehend reibungslose massenhafte Kollaboration boten. Zugleich werden aber auch ideologische Kontinuitäten und Brüche in der Verwaltungspraxis sowie der Berufsethik heute problematisiert.
Das hier beschriebene Projekt umfasst zwei Seminartage für Krankenpflegeschülerinnen und -schüler innerhalb der dreijährigen Berufsausbildung an Krankenpflegeschulen öffentlicher und privater Kliniken. Diese findet sowohl praktisch im Krankenhaus als auch theoretisch im Blockunterricht über jeweils vier Wochen eines Semesters statt. Projekttage außerhalb der Schule, wie z.B. Seminartage in der Gedenk-und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz zur Geschichte der Krankenpflege im Nationalsozialismus werden inzwischen von fast allen Krankenpflegeschulen Berlins regelmäßig in den Ausbildungsgang eingebunden.
In einer Vorbesprechung mit den Ausbilderinnen und Ausbildern der Krankenpflegeschülerinnen und -schüler wird geklärt, welche thematischen Schwerpunkte bearbeitet werden sollen. Informationen über die Gruppe, ihre Vorkenntnisse, ihre Interessen und ihr Lernverhalten sind wichtige Faktoren für die Konzeption. Dabei werden die Schülerinteressen vorrangig vor denen des Lehrers berücksichtigt. Der Projekttag in der Gedenkstätte setzt bei den Teilnehmern und Teilnehmerinnen Motivation für das Thema "Nationalsozialismus" und die Fähigkeit zur Eigenaktivität in Kleingruppenarbeit voraus. Die Thematik ist im Falle dieser Berufsgruppe stärker als bei anderen berufsspezifischen Seminaren auf den Lehrplan bezogen, der die Behandlung des Themas Euthanasie und die Berufsgeschichte im Nationalsozialismus vorschreibt.
Die Besonderheit des Seminars in der Gedenkstätte gegenüber einer unterrichtlichen Behandlung in der Krankenpflegeschule besteht darin, daß größere historische Zusammenhänge - wie die rassistische Verfolgung der Juden, Sinti und Roma und anderer diskriminierter Gruppen - anschaulicher einbezogen werden können. Auch aktuelle Probleme wie Rechtsextremismus und Vorurteilshaltungen lassen sich an einem außerschulischen Lernort offener und neutraler behandeln, da kein Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Dozentinnen der Gedenkstätte und den Lernenden besteht, wie dies zwischen Ausbilderinnen bzw. Ausbildern und Auszubildenden der Fall ist.
Nach einer Einführung zur historischen Bedeutung der Wannsee-Konferenz und zur Geschichte des Hauses (siehe pdf-Dokumente) werden am ersten Tag die Themen Zwangssterilisation und Euthanasie erarbeitet. Der Einstieg erfolgt mit einem Brainstorming: Die Schülerinnen und Schüler werden aufgefordert, Gedanken zum Tod und Vorstellungen von Situationen, in denen der Tod dem Leben vorzuziehen wäre, aufzuschreiben. Im zweiten Schritt sollen sie Begründungen formulieren. In den meisten Fällen wird der Autonomieverlust, ein Zustand der Abhängigkeit und des "Anderen-zur-Last-Fallens" genannt. Ausgehend von dieser Gedankensammlung diskutieren sie dahinterstehende gesellschaftliche Normen und individuelle Wertvorstellungen.
Daran anschließend wird auf der Basis von Bild- und Textmaterial aus der NS-Zeit und der Zeit vor 1933 analysiert (siehe pdf-Dokumente), aufgrund welcher Kriterien Menschen kategorisiert wurden (Aussehen, Intelligenz, Geschlecht, Leistung) und welchen Anteil Anthropologen und Mediziner an der rassistischen Begriffsbildung und Normensetzung hatten (Erklärung der Begriffe "Eugenik", "Rassenanthropologie" und "Rassenhygiene").
Anschließend erarbeiten die Schülerinnen und Schüler in Kleingruppen an Dokumenten und Formularen der Gesundheitsverwaltung die Geschichte der Zwangssterilisation bis hin zur Vernichtung sogenannten lebensunwerten Lebens. Auszüge aus Binding/Hoche 1920, Hitlers Ermächtigung zur Tötung "unheilbar" Kranker vom 1. Sept. 1939 sowie Overhead-Folien zu Elementen der NS-Ideologie finden hier Verwendung (siehe pdf-Dokumente). Dabei steht das genaue Herausarbeiten der Beteiligung medizinischen Personals im Zentrum. Zur visuellen und emotionalen Vertiefung werden verschiedene Auszüge aus Dokumentarfilmen (siehe Bibliographie) eingesetzt und analysiert.
Zum Abschluss des ersten Tages wird der Bezug zur aktuellen Debatte um Sterbehilfe hergestellt, indem eine neuere Umfrage des populären Wochenmagazins "Der Stern" (Nr. 39/1996) (siehe pdf-Dokumente) zur Humangenetik herangezogen wird, deren Ergebnisse ausgespart bleiben. Mit den Fragen läßt sich im Selbsttest ermitteln, ob sich die Berufsgruppe des medizinischen Pflegepersonals in ihrer Bewertung menschlichen Lebens von der übrigen Bevölkerung unterscheidet. In der Regel ergibt der Test, daß auch Krankenpflegepersonal, von dem ein sensiblerer Umgang mit ethischen Fragen in bezug auf das Menschenbild erwartet wird, von der Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung nicht signifikant abweicht. Damit wird - wie schon bei der Gedankensammlung zum Thema "Tod" zu Beginn des Tages - bewusst, daß gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen das berufliche Handeln stärker beeinflussen als individuelle Sozialisationsinstanzen.
Am zweiten Tag steht die Berufsgeschichte im Vordergrund. Es werden Dokumente zur Gleichschaltung und Ideologisierung pflegerischer Tätigkeit, NS-Propagandamaterial als Overhead-Folien und Teile der Ausstellung im Haus der Wannsee-Konferenz einbezogen, die das spezifisch nationalsozialistische Weltbild und Wertesystem verdeutlichen: Die Pflege des "Volkskörpers" hat Vorrang vor den Bedürfnissen des individuellen Patienten. Ökonomisierung des Gesundheitswesens, d.h. Einsparung bei den sogenannten Ballastexistenzen, ist "Dienst am (gesunden) Volk". Die u.a. schließlich zum NS-Massenmord führende Kosten-Nutzen-Argumentation wird auch im Zusammenhang mit den aktuellen Debatten um die Thesen des australischen Philosophen Peter Singer und die zunehmenden Einsparungen im Gesundheitssektor diskutiert.
Zum Abschluss wird mit Auszügen aus authentischen Gerichtsakten in Verfahren gegen Täter und Täterinnen, die an den Euthanasiemorden beteiligt waren, ein Gerichtsverfahren inszeniert. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen sollen sich dabei mit Aspekten der individuellen Verantwortung argumentativ auseinandersetzen, indem sie die Taten aus den unterschiedlichen Perspektiven von Angeklagten, Anklägern, Richtern und Verteidigern darstellen. Das Seminar endet mit einer offenen Diskussion über den Erfahrungsprozess der beiden Lerntage. Mehrheitlich zeigt sich in dieser Diskussion, daß Interesse an weiterführenden Informationen geweckt wurde und großer Bedarf an der Bewusstmachung der historisch-politischen Dimension des Themas für die eigene Tätigkeit besteht.