Ort/Bundesland: Nordrhein-Westfalen |
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Kurt Tinius |
Das Projekt "Schreibwerkstatt" ist an unserer Schule inzwischen zu einer Tradition geworden. Seit einigen Jahren veranstalte ich mit Schülern der Oberstufe einmal jährlich eine einwöchige Schreibwerkstatt außerhalb des normalen Schulbetriebs, in der die Jugendlichen die Gelegenheit haben, eigene Texte zu schreiben und sich im Gespräch mit ihren Mitschülern über ihre Erfahrungen beim Schreiben auszutauschen.Während ich in den ersten Schreibwerkstätten rein assoziatives, themenfreies, von äußeren Zwängen ungebundenes Schreiben in den Vordergrund stellte, ging ich 1995 dazu über, mit den Schülern unter einer festen Themenvorgabe zu arbeiten.
Diese Methode wurde 1996 in einer Schreibwerkstatt zum Thema "Juden in Mülheim nach 1945" weiterentwickelt. Die Entscheidung dafür fiel im Dezember 1995 aufgrund verschiedener lokaler und überregionaler Umstände: Der geplante Wegzug der jüdischen Gemeinde von Mülheim nach Duisburg schien beschlossene Sache zu sein. Aus Platz-, Raum- und Finanzgründen sah sich die Stadt Mülheim an der Ruhr nicht in der Lage, der jüdischen Gemeinde eine geeignetere Alternative zum Gebetshaus in der Kampstraße bieten zu können, so dass die Gemeinden Mülheim, Oberhausen, Duisburg den Entschluss fassten, das Angebot der Stadt Duisburg anzunehmen, dort eine neue Synagoge zu errichten.
In der öffentlichen Debatte bewegten zwei Bucherscheinungen die Gemüter: Ulrich Herbert: "Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft", 1903-1989. Bonn 1996 und Daniel Jonah Goldhagen: "Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust". Berlin 1996.
"Wie gehen wir mit dem Thema Holocaust um?" Diese Frage schien wieder hochbrisant zu werden und entfachte etliche Grundsatzdebatten "gegen das Vergessen". Bundespräsident Roman Herzog fragte in diesem Zusammenhang auf einer Gedenkfeier in Bergen-Belsen: "Haben wir wohl schon den richtigen Umgang mit dem Erinnern gefunden?" und formulierte damit eine der Fragen, die auch für unsere Auseinandersetzung mit dem Thema leitend wurde.
Ein weiterer zentraler Denkanstoß war für uns Adornos Einschätzung: "Unfähigkeit zur Identifikation war fraglos die wichtigste psychologische Bedingung dafür, dass so etwas wie Auschwitz sich inmitten von einigermaßen gesitteten und harmlosen Menschen hat abspielen können". (Theodor W. Adorno: Erziehung nach Auschwitz. In: Stichworte. Kritische Modelle 2. Frankfurt am Main 1969, S. 85-101)
Die implizierte Forderung nach einem Versuch des Hineinversetzens in andere Menschen war für uns unter dem Anspruch einer kreativen Verarbeitung Anlaß, neue Ansätze für eine Auseinandersetzung mit Opfern und Tätern zu suchen. Nach der Festlegung des Rahmenthemas sollten durch Interviews mit jüdischen Zeitzeugen und die Einbeziehung von Fachleuten, die sich durch die Bearbeitung dieses Themas ausgewiesen hatten, Ideen für Schreibmuster (siehe die pdf-Dokumente) thematisch vorgegeben werden:
Während unserer Arbeit in der Schreibwerkstatt begleitete uns außerdem Petra Kunik, Mitglied der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main und Autorin einiger Schriften über das Leben von Juden in Deutschland.
Im Verlauf der Auswertung unserer Schreibwerkstatt-Texte beschäftigten wir uns des Weiteren mit den Büchern von Hanna Krall "Schneller als der liebe Gott" und "Existenzbeweise". Hanna Krall ist Jüdin und z.Zt. eine der bedeutendsten polnischen Autorinnen. Ihre dokumentarische Schreibmethode mit der Einbeziehung geschichtlicher Fakten in fiktive Literatur erschien uns für unser Vorhaben beachtenswert. Wir nahmen Kontakt zu Hanna Krall auf und konnten sie dazu bewegen, einen Nachmittag mit uns in der Schule zusammenzuarbeiten. Ihre eigenen Texte veröffentlichten die Schüler zusammen mit den Zeitzeugeninterviews am 4. Mai 1997 zum Gedenktag an die Shoah in der Textdokumentation: "Verwüstet ist der Ort - Tora, wer wird dich nun erheben?" Wir kamen so zum Ausgangspunkt unserer Schreibwerkstatt zurück: "Erlösung heißt Erinnerung".
Bei den ausgewählten Texten (siehe die pdf-Dokumente) handelt es sich um Versuche, sich in kreativer sowie fiktiver Form dem Holocaust und seinen Auswirkungen vor Ort zu nähern. Dementsprechend wurden auch die Prinzipien der Textgestaltung aufgefasst. Schon beim Schreiben im Verlauf der Schreibwerkstatt wollte nicht jeder sich zu allen vorgegebenen Schreibanlässen verpflichten lassen. Grundlegende Ängste vor einer kritischen Öffentlichkeit wurden zu beantworten versucht, indem die Texte anonym veröffentlicht wurden. Fehlen eindeutige thematische Überschriften, so wurden die Anfänge der jeweiligen Texte fett gedruckt. Dies läßt Rückschlüsse auf einen Wechsel in der Verfasser/innenschaft zu. Letztlich wurden die fertig überarbeiteten Texte noch einmal auf vereinbarte Kriterien für die Aufnahme in unsere Textdokumentation gelesen und ausgewählt.