Ort/Bundesland: Hessen |
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1980 begann eine Arbeitsgruppe des Hessischen Instituts für Lehrerfortbildung, Spuren jüdischen Lebens in Frankfurt zu suchen. Stadtrundfahrten, Stadtbegehungen oder Besichtigungen jüdischer Friedhöfe führten zu den Orten früheren und heutigen jüdischen Lebens in Frankfurt am Main. Von den Orten kam das Projekt zu den Menschen, die früher in Frankfurt lebten. 1985 begann die Arbeitsgruppe Interviews mit jüdischen Frankfurterinnen und Frankfurtern zu führen, die während der Nazi-Zeit emigrieren mussten. Es entstanden u.a. Videoportraits von Dorothy Baer: "Meine Eltern haben mir den Abschied sehr leicht gemacht" (1994) und von Martha und Erwin Hirsch: "…dass wir nicht erwünscht waren" (1995).
Neben diesem Projektschwerpunkt organisiert die Arbeitsgruppe seit 1989 Begegnungen zwischen Lehrern, Jugendlichen und Zeitzeugen. Diese Arbeit ist zu einem wichtigen Bestandteil des Besucherprogramms der Stadt Frankfurt geworden. Seit 1980 lädt die Stadt jedes Jahr Emigranten und Überlebende für 14 Tage in ihre frühere Heimat ein.Die erste Kontaktaufnahme mit den ehemaligen Frankfurterinnen und Frankfurtern durch die Projektgruppe findet bereits vor dem Besuch statt. In einem Brief an die Eingeladenen stellt sich das Projekt vor. Die Antwortbriefe ermöglichen es, rechtzeitig Kontakte zu den früher besuchten Schulen, zu Stadtteilinitiativen oder zu den Herkunftsorten von Eltern und Großeltern herzustellen. Gut die Hälfte der Gäste nimmt die vielfältigen Angebote der Projektgruppe an.
Eine Begrüßungsveranstaltung in Frankfurt dient dem gegenseitigen Kennenlernen sowie der Verabredung von Schulbesuchen oder anderer gemeinsamer Aktivitäten. Insbesondere für die Lehrerinnen und Lehrer, die zum ersten Mal an Gesprächen mit Zeitzeugen teilnehmen, hat diese erste Kontaktaufnahme eine wichtige Funktion für den Umgang mit der eigenen Befangenheit. Das Gelingen von Zeitzeugengesprächen in der Schule hängt wesentlich davon ab, ob die beteiligten Lehrerinnen und Lehrer im Vorfeld ihre Hoffnungen, Wünsche oder Befürchtungen reflektieren, um auf dieser Basis angemessen mit den Reaktionen der Jugendlichen umgehen zu können.
In Zusammenarbeit mit verschiedenen Organisationen wurde deshalb 1993 der "Arbeitskreis Zeitzeugenprojekte" in Hessen geschaffen. Er dient der Fortbildung der Kolleginnen und Kollegen, dem Austausch von Erfahrungen und bietet ein Forum für die Vorstellung von unterschiedlichen Projekten. Auf diese Weise konnte in den vergangenen Jahren ein Netzwerk von Einzelpersonen, Initiativen und Organisationen geschaffen werden, die sich mit dem Nationalsozialismus und insbesondere mit biographischen Zugängen beschäftigen. Dieses Netzwerk ist eine wichtige Basis der Arbeit.
Durch die Aktivitäten der Projektgruppe kamen etwa 10 000 Personen in Kontakt mit früheren Frankfurterinnen und Frankfurtern. Etwa 450 Begegnungen in Schulen und der Lehrerfortbildung wurden vermittelt bzw. durchgeführt. Zusätzlich wurden u.a. Kontakte mit Geschichtsinitiativen, Archiven, Lokalforscherinnen und -forschern geschaffen.
Ruth und Max Sommer fiel der Entschluss, nach Deutschland zu kommen, nicht leicht. Jahrelang mieden sie jeden Kontakt zu ihrer früheren Heimat: "Ich wollte gar nichts mehr von Deutschland wissen", schilderte Ruth Sommer. Mit Jugendlichen in Deutschland zu sprechen, war ihr wichtigstes Motiv, nochmals in das Land zu kommen, aus dem sie fliehen musste. In ihren Briefen drückte sie aus, was der Besuch in Frankfurt für sie und ihren Mann bedeutet hat:."Diese Reise war wirklich sehr wertvoll für uns, besonders für meinen Mann, der seine Eltern verloren hat. Er kann nun sagen, jetzt ist es doch anders. Das ist sehr wichtig für ihn… Mein Schulbesuch war für mich ein wichtiges Erlebnis, denn es war der Beweis, dass wir ein anderes Deutschland gesehen haben als zuvor. Ich weiß jetzt, dass die Worte "Nie wieder" bei Ihnen ebenso wichtig genommen werden wie bei uns. Das ist doch die einzige Hoffnung für die Zukunft." (Brief vom 30.5.89)
Auch bei den Jugendlichen löste der Besuch vieles aus. "Liebe Frau Sommer! Ich war von Ihrem Besuch sehr beeindruckt und bewegt, denn ich glaube nicht, dass ich den Mut gehabt hätte, nach so vielen Jahren nach Deutschland zurückzukommen, um dort mit Schulklassen und so frei über meine Vergangenheit zu reden. Bei mir würde es wahrscheinlich so lange dauern, bis ich mich entschließen könnte, dass ich schon längst nicht mehr leben würde. Ich hätte wahrscheinlich zu viel Angst, dass ich hier mit Desinteresse und Kälte empfangen werden würde…"
Noch können Zeitzeugen der NS-Zeit, Emigranten und Überlebende der Konzentrationslager durch ihre persönlichen Erinnerungen eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlagen. Der Kern solcher Begegnungen ist, wie die Reaktionen der Beteiligten zeigen, nicht allein die Lebensgeschichte der Zeitzeugen, sondern vor allem der Dialog in der Gegenwart über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Welche Bedeutung dieser Dialog zwischen den Generationen, zwischen Israelis, zwischen Emigranten, Überlebenden, ihren Kindern und Deutschen hat, formulierte der israelische Professor Yehuda Bauer folgendermaßen:"Um den Holocaust zu verarbeiten, brauchen wir euch, brauchen wir die Deutschen. Wir müssen überzeugt sein, dass es in Deutschland eine überwältigende Majorität gibt, die so etwas nicht wieder zulassen wird. Es ist wahnsinnig wichtig, psychologisch, für die Juden Israels, für die Juden glaube ich überall, besonders für die Jugend natürlich zu wissen, dass die Deutschen normale Menschen sind. Das ist nicht selbstverständlich …Aber ihr braucht uns genauso. Denn ihr könnt die Vergangenheit nicht verleugnen, denn wenn ihr das tut, werdet ihr genauso in ein Trauma hineingleiten wie wir … Und in zunehmendem Maße sterben die Opfer. Aber die Nachkommen der Opfer, mit denen könnt ihr sprechen… Nicht, um irgendwie in der Misere zu baden, sondern um ein normales gesellschaftliches Leben aufzubauen auf historischen Tatsachen." (Jehuda Bauer in: "Frankfurter Rundschau" vom 18.2.94)
Auch wenn es viele gute Gründe gibt, Gespräche mit Zeitzeugen in der Schule und in der Lehrerfortbildung verstärkt anzubieten, muss doch der gegenwärtige "Zeitzeugenboom" auch mit einer gewissen Skepsis betrachtet werden. Häufig werden solche Gespräche mit allzu großen Erwartungen überfrachtet. Die Gesprächspartner werden funktionalisiert und lediglich als "lebendiges Geschichtsbuch" angesehen. Ihre Subjektivität wird oft eher kritisch betrachtet. Gelegentlich enden solche Schulbesuche dann mit einer Enttäuschung. Im Rahmen des Projektes "Jüdisches Leben in Frankfurt" wurden daher Begleitmaterialien mit Empfehlungen für die Vorbereitung und Organisation von Schulbesuchen und Interviews mit Zeitzeugen erarbeitet, die hier in Auszügen vorgestellt werden.
Gespräche mit den Zeitzeugen und insbesondere mit Emigranten und Überlebenden sind meist eine einmalige und nicht wiederkehrende Gelegenheit, die Lebenserinnerungen dieser Menschen kennen zu lernen und festzuhalten. Dabei stehen unsere Gesprächspartner und ihre biographischen Berichte im Vordergrund. Sie erzählen ihre Lebensgeschichte, ihre persönlichen Erinnerungen. Wichtig ist dabei unsere Bereitschaft, zuzuhören, uns auf unsere Gesprächspartner einzulassen, uns einzufühlen und vor allem bei Besuchen von Emigranten die besondere Situation während des Besuches in der früheren Heimat im Blick zu behalten. Vorbereitung, Rahmen und Form dieser Gespräche haben einen großen Einfluss auf die Offenheit, in der diese Begegnungen stattfinden.
Von der ersten Kontaktphase hängt der weitere Verlauf der Begegnungen ab. Sie ist immer auch ein emotionales Abtasten, in der Gefühle von Skepsis, Zurückhaltung oder Unsicherheit abgebaut werden können. Vor dem Interview oder dem Schulgespräch sollten die Gesprächspartner darüber informiert sein, mit wem sie es zu tun haben, welche Motivation vorliegt, welches Ziel verfolgt wird und wofür das Interview oder Unterrichtsgespräch verwendet werden soll. Außerdem ist es wichtig, Inhalte, Form, Ablauf und vermutliche Dauer des Gespräches vorher zu klären. Klarheit schafft Vertrauen!Als hilfreich für die Vorbereitung und das Gespräch hat sich die Themenliste der AG "Jüdisches Leben in Frankfurt" erwiesen. Sie ist als neutral und offen gehaltenes Gerüst gedacht, welches das Spektrum möglicher Aspekte der Lebensgeschichte abdeckt. Die Gesprächspartner bekommen diese Themenliste oder Zusammenstellung von Fragen einige Tage vorher oder vor Beginn des Gesprächs. Dadurch wird den Zeitzeugen eine gewisse Sicherheit vermittelt. Die Interviewer und anderen Gesprächsteilnehmer können mit Hilfe der Liste überprüfen, ob alle wichtigen Aspekte während des Gespräches angesprochen wurden.
Vor Besuchen von Zeitzeugen im Unterricht sollte eine gemeinsame Vereinbarung mit der jeweiligen Klasse oder Gruppe getroffen werden. Freiwilligkeit ist dabei eine wichtige Voraussetzung! Das Gespräch soll zur Sache der Schülerinnen und Schüler werden. Darüber hinaus ist es wichtig, dass den Jugendlichen die Bedeutung und der Rahmen der Begegnung bewusst wird. Sachliche Informationen sind eine gute Basis zum Verständnis historischer Zusammenhänge. Wichtig ist jedoch, dass die Schülerinnen und Schüler auf das Gespräch eingestimmt und dafür sensibilisiert werden. Die Vorerwartungen, Hoffnungen oder das Unbehagen sollten daher ebenfalls angesprochen werden. Auch wenn Gespräche mit Zeitzeugen ein besonderes Ereignis in der Schulzeit darstellen, muss dennoch davor gewarnt werden, solche Begegnungen auch von Seiten der Initiatoren mit überhöhten Erwartungen - beispielsweise direkten Verhaltensänderungen - zu überfrachten.
Die Schülerinnen und Schüler sollten als Vorbereitung auf das Gespräch über die wichtigsten biographischen Daten der Zeitzeugen informiert werden, damit sie eine Vorstellung von den inhaltlichen Schwerpunkten des Gespräches gewinnen können. Auf dieser Basis können sie auf die jeweilige Lebensgeschichte bezogene Fragen entwickeln. Diese Fragen dienen der Vorbereitung und der Orientierung. In der Situation des Gespräches selbst sind die Schülerinnen und Schüler oft nicht in der Lage, spontan zu reagieren. Vorher angedachte Fragestellungen können ihnen einen Teil der Hemmungen nehmen. Es ist jedoch nicht empfehlenswert, vorgefertigte.Fragen während des Schulbesuches der Reihe nach abzuhaken. Erfahrungsgemäß ist die erste Frage nach den Erzählungen der Zeitzeugen besonders schwierig. Notfalls könnte die Lehrerin oder der Lehrer selbst beginnen. Diese Rolle kann auch nach vorheriger Absprache von einer Schülerin oder einem Schüler übernommen werden.
Den Schülerinnen und Schülern sollte bewusst werden, dass ein Mensch mit einer individuellen Biographie zu einem Gespräch mit ihnen kommt, und nicht "ein anschauliches Geschichtsbuch auf zwei Beinen". Ein Zeitzeuge kann immer nur über bestimmte Erfahrungen und historische Ereignisse aus eigenem Erleben sprechen, kann also nicht die Nazizeit mit allen Facetten abdecken. Wer 1933 bereits emigriert ist, kann beispielsweise nicht aus eigenem Erleben über die Reichskristallnacht berichten. Die Einordnung dieser Lebensberichte in geschichtliche Zusammenhänge ist Aufgabe der Vor- und Nachbereitung im Unterricht.
Die Zeitzeugen sind nicht nur Medium für die Vergangenheit. Es geht also auch immer um die Frage, wie unsere Gesprächspartner mit der Vergangenheit leben, welche Verletzungen beispielsweise noch immer präsent sind. Die subjektive Perspektive der Zeitzeugen ist damit die besondere Stärke solcher Gespräche. In diesem Sinne werden die Zeitzeugen als Subjekte, nicht als Objekte unserer Wissbegierde gesehen. Die Bedeutung der Schulbesuche liegt in der Begegnung mit Menschen und ihrer individuellen Lebensgeschichte sowie dem Dialog, der zwischen uns und ihnen entsteht.
Aus den oben genannten Gründen ist es wichtig, über den Rahmen nachzudenken, der in der Schule geschaffen wird. Eine Doppelstunde ist für das Gespräch in der Schule am besten geeignet. Gespräche in kleineren Gruppen sind intensiver als Großveranstaltungen. Es hat sich als sinnvoll erwiesen, die Begegnungen nur mit einer Klasse oder gegebenenfalls mit zwei kleineren Gruppen durchzuführen. Darüber hinaus sollte man bedenken, dass die physische und psychische Belastbarkeit der Zeitzeugen Grenzen hat.Für den Ablauf des Gespräches im Unterricht empfiehlt sich ein Verfahren, das in ähnlicher Weise auch für Interviews Geltung hat: Zunächst berichten die Zeitzeugen über ihre Lebensgeschichte möglichst ohne Unterbrechung durch uns. Sie können so selbst ihre inhaltlichen Schwerpunkte setzen und werden nicht in ihrem roten Faden gestört. Diese Phase dauert meist knapp eine Stunde. Erst nach der zusammenhängenden Darstellung beginnen die Fragen. Bei Rückfragen kurze und präzise Fragen stellen und keine Korreferate halten! Auch den Gesprächspartnern sollte Gelegenheit gegeben werden, den Schülerinnen und Schülern Fragen zu stellen und mit ihnen einen Dialog zu führen.
Um der Begegnung ein zusätzliches Gewicht zu geben, kann es sich anbieten, in der Schule in einen besonderen Raum wie beispielsweise die Bibliothek zu gehen. Auch die Einbeziehung der Schulleitung unterstreicht den besonderen Charakter des Besuches. Die Einladung der lokalen Presse kann die Bedeutung dieses Gespräches für das Schulleben hervorheben. Voraussetzung ist jedoch die Zustimmung aller Beteiligten, vor allem der Zeitzeugen wie auch der Schulleitung.
In der ersten Nachbesprechung sollte vor der inhaltlichen Vertiefung von Sachfragen zunächst die emotionale Wirkung des Gespräches auf die Schülerinnen und Schüler thematisiert werden. Folgende Fragen könnten dabei angesprochen werden:
Bei der sich anschließenden vertiefenden inhaltlichen Arbeit sollte der biographische Bericht nochmals in den historischen Zusammenhang eingeordnet werden. Nähere Informationen über angesprochene historische Ereignisse sollten herangezogen oder Recherchen über die Lebensgeschichte im Archiv oder im Stadtteil angestellt werden. Der Auswertung und Veröffentlichung der Erfahrungen dienen Artikel für die Schulzeitung oder die lokale Presse, Ausstellungen und Dokumentationen. Der eigenen Reflexion und der Auseinandersetzung mit der Lebensgeschichte der Zeitzeugen dienen anschließende Briefe an die Zeitzeugen. Dabei sollte auch nicht vergessen werden, dass solche Briefe und gegenseitige Rückmeldungen über Gedanken und Fragen nach dem Gespräch für alle Beteiligten eine wichtige Funktion haben. Sie unterstreichen zudem den Charakter der Gespräche als Begegnung.
"Ihr Brief mit den Schreiben der Schülerinnen hat mich sehr gefreut, denn es ist nicht selbstverständlich, dass man nach solch einem Gespräch ein Echo bekommt. Und seien Sie gewiss: mir hat es selbst Spaß gemacht, hatte ich doch zu keiner Zeit den Eindruck, das sei eine Schulstunde gewesen, sondern ich empfand es als ein Gespräch unter Neugierigen." (Kurt Schäfer)