Ort/Bundesland: Baden-Württemberg |
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Awosusi, Anita / Pflock, Andreas Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma Bremeneckgasse 2 69117 Heidelberg Mail: info [at] sintiundroma [dot] de |
Das Projekt geht zurück auf eine Exkursion in die KZ-Gedenkstätte Natzweiler-Struthof (Elsass), die das Heidelberger Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma im Frühjahr 2003 organisierte. Bei den Vorbereitungen wurde deutlich, dass nur wenige Informationen über das Lager und die Gedenkstätte zur Verfügung standen. Das Referat Dialog im Dokumentationszentrum sammelte daraufhin alle verfügbaren Materialien und traf die Entscheidung, für die Exkursion der Gruppe einen neuen Rundgang durch die Gedenkstätte zu konzipieren. Schon damals entstand die Idee, diese mühevoll zusammengetragenen Informationen zu einem späteren Zeitpunkt anderen Gedenkstättenbesuchern zugänglich zu machen. Bis zum Beginn der eigentlichen inhaltlichen Arbeiten für eine Publikation sollte es jedoch noch über ein Jahr dauern. In dieser Zeit fiel der Entschluss, mit der geplanten Veröffentlichung einen möglichst breiten Interessentenkreis anzusprechen. Dabei sollte das Verfolgungsschicksal der nach Natzweiler-Struthof deportierten Sinti und Roma eingearbeitet werden, ohne die Publikation inhaltlich zu dominieren. In Anbetracht der zahlreichen deutschen Schulklassen und Jugendgruppen aus mehreren Bundesländern, die Jahr für Jahr die Gedenkstätte besuchen, entschlossen sich die Autoren, diese Zielgruppe besonders zu berücksichtigen. Von der Überlegung, eine Publikation auch für Schüler und Lehrer zu konzipieren, war es nur ein relativ kurzer Weg zur Entscheidung, an der Entstehung des Buches Schüler unmittelbar mitarbeiten zu lassen und ihren Ideen dabei Raum zu geben.
In der Carl-Theodor-Schule in Schwetzingen entstand - durch Vermittlung des Geschichtslehrers Norbert Weber - eine Gruppe aus fünf Schülerinnen. Sina Burkhard, Katrin Keßler, Nina Löschmann, Carolin Spitzer und Zorica Radoicic entschieden sich für eine längerfristige Mitarbeit am Projekt. Der Geschichtslehrer unterstützte ihr Engagement vor allem auf organisatorischer Ebene, indem er im Schulalltag Freiräume für die verschiedenen Exkursionen und Arbeiten verschaffte. Trotz seines eigenen großen Interesses am Thema hielt er sich bei der inhaltlichen Arbeit im Hintergrund und lies den Schülerinnen die Möglichkeit, ihre eigenen Ideen und Vorstellungen zu formulieren und zu entwickeln.
Die Arbeit der Projektgruppe begann unter Anleitung der beiden Autoren Anita Awosusi und Andreas Pflock im Frühjahr 2005 mit der Sichtung und Lektüre der einführenden Literatur zur Geschichte des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof. Um für die Schülerinnen als Einstieg in das Thema die - oftmals erschreckende - Nähe des KZ-Systems zur eigenen Heimatregion zu verdeutlichen, führten zwei Exkursionen zunächst in die KZ-Gedenkstätten nach Mannheim-Sandhofen und Neckarelz. Erst die dritte gemeinsame Reise führte nach Frankreich. Zunächst nach Schirmeck, wo die nationalsozialistischen Besatzer ein „Sicherungslager“ errichteten, dessen Schrecken sich bis heute tief in das kollektive Gedächtnis der Menschen in der Region Elsass-Mosel eingebrannt hat. In der Bundesrepublik war kaum etwas über dieses Lager und seine Häftlinge bekannt. So fiel die Entscheidung, diesen nationalsozialistischen Terrorort auch in die Recherchen und die Publikation mit aufzunehmen. Der weitere Ablauf des Besuchs in Frankreich zeichnete den Weg der Natzweiler-Häftlinge nach. Er führte vom Bahnhof Rothau – an dem die Deportationszüge eintrafen – über das Areal des Steinbruchs, die erhaltene Gaskammer und den Hinrichtungsort in der ehemaligen Kiesgrube schließlich zum Kern der Gedenkstätte, dem ehemaligen Häftlingslager. Bei einem ausführlichen Rundgang besuchte die Gruppe die historischen Relikte des Konzentrationslagers und legte die weiteren Stationen des schriftlichen Rundgangs fest.
Anschliessend an diese Exkursionen entstand die Grundkonzeption der Publikation. Aus eigener Motivation entschieden sich die Schülerinnen, einen inhaltlichen Teil mit Häftlingsbiografien zu bearbeiten. Ganz bewusst hatten die Autoren sie zunächst „nur“ als Beraterinnen in das Projekt mit einbezogen, und eine spätere aktive inhaltliche Mitarbeit freigestellt. Mit fünf exemplarischen Biografien von Sinti- und Roma - Häftlingen gestalteten sie einen wesentlichen Teil des Buchs mit und gaben beispielhaft den Opfern ein „Gesicht“.
Unterstützung erhielt die Projektgruppe dabei u.a. vom französischen Historiker Prof. Dr. Robert Steegmann, der die Namen der von ihm recherchierten Sinti- und Roma - Häftlinge zur Verfügung stellte. Bis zum Herbst 2005 verfassten die Schülerinnen ihre Textbeiträge für geplanten Häftlingsbiografien, die von den Autoren anschließend redaktionell bearbeitet wurden. In Kooperation mit der Mannheimer Medienagentur Schüssler begann gleichzeitig die Entwicklung eines Grundlayouts. Bei einer gemeinsamen Arbeitssitzung in der Agentur brachten die Schülerinnen ihre Ideen zur Layoutgestaltung mit ein und erhielten Einblicke in die technischen Abläufe bei der Entstehung des Buches.
Die fertig gestellte Publikation wurde im Rahmen einer Abendveranstaltung im Dokumentationszentrum am 10. Mai 2006 vorgestellt. Die Schülerinnen begannen die Präsentation mit dem Vortrag von Häftlingszitaten und schlossen den Abend mit persönlichen Aussagen zur Bedeutung des Projekts und der Überreichung eines ersten Buchexemplars an ihren Geschichtslehrer ab.
Die Publikation „Sinti und Roma im Konzentrationslager Natzweiler-Struthof. Anregungen zu einem Gedenkstättenbesuch“ gliedert sich in die vier Hauptteile Geschichte, Rundgang, Biografien und Informationen. Der erste Teil fasst die historischen Hintergründe zum System der NS-Konzentrationslager und zu den Lagern Schirmeck und Natzweiler-Struthof zusammen. Zum ersten Mal wird dabei auch explizit auf das Schicksal der nach Natzweiler-Struthof deportierten Sinti und Roma eingegangen. Im zweiten, umfassendsten Teil erläutert ein Rundgang insgesamt 22 Stationen in der KZ-Gedenkstätte und ihrem Umfeld. Neben historischen Hintergrundinformationen und zahlreichen Abbildungen heben Zitate der Überlebenden dabei immer wieder die Perspektive der Häftlinge hervor. Im dritten Teil der Publikation werden die Namen von rund 500 Sinti und Roma, die als Häftlinge nach Natzweiler-Struthof deportiert wurden, in den Mittelpunkt gestellt. Sechs exemplarische Biografien zeigen daran anschließend die menschliche Dimension des nationalsozialistischen Völkermords an den Sinti und Roma auf. Der letzte Teil mit Adressen und einem ausführlichen Literatur- und Medienverzeichnis sowie Anfahrtsskizzen und Orientierungskarten schließt die Veröffentlichung ab. Nach der Eröffnung eines neuen Museums zur Lagergeschichte und des Europäischen Zentrums der deportierten Widerstandskämpfer in der Gedenkstätte Natzweiler-Struthof ist im Rahmen des Schülerprojektes die erste umfassende Begleitpublikation für den Besuch der Gedenkstätte entstanden, mit der eine seit vielen Jahren bestehende Lücke geschlossen wird.
Gefördert wurde das Projekt durch die „Aktion Mensch“, die im Rahmen des Programms „5000 x Zukunft“ die Drucklegung des Buchs ermöglichte und die Landeszentrale für politische Bildung, durch deren Unterstützung Recherchen und Exkursionen finanziert werden konnten.