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Es begann damit, dass im Jahr 1985 Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer zwei Ausstellungen besuchten, die danach auch in der Tellkampfschule gezeigt wurden: "Sinti und Roma - Klischee und Wirklichkeit" und "Stationen der Vertreibung", eine Fotoreportage über eine staatenlose Roma-Familie in der Bundesrepublik. Herr Weiß, seine Tante Berta Weiß und Vorstandsmitglieder des damals noch ziemlich neuen Sintiverbandes kamen zu Gesprächen in mehrere Klassen der Schule. Dies waren die ersten intensiven Begegnungen mit hannoverschen Sinti und zugleich starke Impulse für die pädagogische Arbeit an der Tellkampfschule in den folgenden 12 Jahren.
Nichts davon war vorher geplant. Alle Aktivitäten entwickelten sich aus dem ersten Zusammentreffen, aus dem Erstaunen darüber, von diesen Bürgern unserer Stadt fast nichts zu wissen, aus dem Eingeständnis, das Schicksal dieser Minderheit den Jugendlichen der Schule bisher nicht vermittelt und dem Erschrecken darüber, einen Völkermord gar nicht wahrgenommen zu haben.
Die Sinti ließen eine Kiste mit Büchern und einige Videokassetten in der Tellkampfschule. Sie bildeten die ersten Bausteine für eine Materialiensammlung, die hier entstand. Inzwischen ist daraus ein Grundstock für einen Arbeitsbereich "Geschichte der Sinti" in der Lehrerbibliothek geworden. Auf der Suche nach Unterrichtstexten wurden wir allmählich fündig. Durch die Interviews mit vier Generationen einer Sinti-Familie, die Michail Krausnick herausgegeben hat, lernten inzwischen viele Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I Lebensgeschichten von Roma und Sinti unseres Jahrhunderts kennen. In Geschichtskursen der Sekundarstufe II wurden u.a. die Materialien eingeführt, die Torsten Böhmer und Erhard Meueler über die Geschichte der Sinti und Roma in Deutschland seit 1400 zusammengestellt haben. Da beide Bücher uns als Anfängern sehr weitergeholfen haben, seien sie hier zur Anregung genannt (siehe pdf-Dokumente).
Seitdem wird das Schicksal der Sinti und Roma in verschiedenen Fächern angesprochen, vor allem in Geschichte, aber auch in Deutsch, Religion und im Ethik-Unterricht (in Niedersachsen "Werte und Normen"). Übrigens: Auch in den Fächern Kunst, Musik und Geographie kann Wissenswertes über Kultur und Ethnologie der Sinti und Roma vermittelt werden.
Im Herbst 1991 erschreckten rassistische Ausschreitungen (z.B. in Hoyerswerda) die Öffentlichkeit. Die Schülervertretung (SV) der Tellkampfschule reagierte darauf mit einem "Aktionstag gegen Rassismus" zum Gedenken an den 9. November 1938 (siehe pdf-Dokumente). Eingeladene Gesprächspartner waren Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, Asylbewerber zusammen mit einem Vertreter von amnesty international, der Ausländerbeirat Hannover und der Niedersächsische Verband Deutscher Sinti.
Ein Jahr später hatte sich die Lage in Deutschland weiter zugespitzt. In Rostock wurden Roma mit physischer Gewalt bedroht und von Spitzenpolitikern selbst für diese Attacken verantwortlich gemacht. Auch in Niedersachsen gab es Brandanschläge auf Sinti, z.B. in Oldenburg. Deshalb widmete die Schülervertretung einen erneuten "Aktionstag gegen Rassismus" im November 1992 dem Schwerpunkt "Sinti und Roma" (siehe pdf-Dokumente). Höhepunkt war eine Podiumsdiskussion mit dem Landesvorstand der Sinti.
Aber es gab auch noch einen künstlerischen Zugang: Eine Gemäldeausstellung mit Bildern des österreichischen Malers Karl Stojka: "Eine Kindheit in Birkenau". Stojka hat erst in den späten 80er Jahren begonnen, seine Kindheitsschrecken aus Auschwitz zu malen. Der Sinti-Verband stellte uns Farbkopien des Ausstellungskatalogs aus dem United States Holocaust Memorial Museum in Washington zur Verfügung. Ein halbes Jahr später konnten wir die Originalgemälde in Auschwitz sehen (siehe Bilder).
Im April 1993 fuhr eine Gruppe von Schülerinnen und Schülern nach Oswiecim/Polen. Dort fanden internationale Gedenkveranstaltungen zum 50. Jahrestag der Errichtung des "Zigeunerlagers" in Birkenau statt. Neben dem Besuch der Gedenkstätten und des kleinen Sinti-Mahnmals in Birkenau sowie den Zeitzeugengesprächen und der Teilnahme an der offiziellen Kranzniederlegung durch die Präsidentin des polnischen Parlaments beeindruckten uns vor allem die kulturellen Ereignisse:
Noch auf der Rückfahrt von Polen beschloss unsere Gruppe den Versuch zu machen, das "Requiem für Kaza Kathárinna" nach Hannover zu holen. Wir hatten Anita Geigges, die Autorin des Textbuches, und den Komponisten Gerhard Rosenfeld, einen Hanns-Eisler-Schüler aus Potsdam, am Rande der Veranstaltung kennen gelernt und waren auch mit Schnuckenack Reinhardt, dem berühmten Sinti-Swing-Musiker, ins Gespräch gekommen. Im Herbst 1994 ergab sich die Möglichkeit, Hannover in eine Tournee des Requiem-Ensembles einzubeziehen. Anita Geigges hatte ein Quartett weltbekannter Künstlerinnen und Künstler für die Aufführungen gewonnen, dazu das Schnuckenack-Reinhardt-Quintett. Das Requiem stellt das Leben der Kaza Kathárinna als exemplarischen Lebens- und Leidensweg einer deutschen Sintezza dar. Anita Geigges setzte damit - nach vielen Büchern und Fernsehsendungen sowie politischen Aktionen - den verfolgten und ermordeten Sinti und Roma ein künstlerisches Denkmal.
Anita Geigges war zum Zeitpunkt der Aufführung schon sehr krank. Trotzdem bereitete sie das Konzert durch zwei Vorträge zur Lage der Roma in Europa vor. Im Frühjahr 1996 starb Anita Geigges.
Lehrerinnen und Lehrer erfahren während ihrer Ausbildung nur gelegentlich etwas über Sinti und Roma, allenfalls durch einzelne Angebote engagierter Hochschullehrerinnen und -lehrer. Für die schon im Beruf stehenden Kolleginnen und Kollegen bot das Niedersächsische Lehrerfortbildungsinstitut gemeinsam mit dem Niedersächsischen Verband Deutscher Sinti erstmals 1994 einen Wochenkurs an. Zu diesem Kurs gehörte auch eine Exkursion in die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora bei Nordhausen/Harz. Auch hier wurden wie in allen Konzentrationslagern Zigeuner geschunden und ermordet, auch hier gab es jahrzehntelang keine Beachtung der Leiden dieser Gruppe. Aber es gibt noch Überlebende und es gibt Zeitzeugen aus Nordhausen, die sich an Sinti und Roma unter den Häftlingen erinnern. Äußerung eines Lehrers nach der Exkursion: "Ich habe vorher kaum so sehr begriffen, dass die Gedenkstätten auch Denk- und Lernstätten sind. Ich werde mit Schülern wiederkommen."
Die Lehrer und Lehrerinnen des Fortbildungskurses untersuchten auch Schulbücher unter dem Aspekt "Sinti und Roma". Sie fanden wenig. Einige gute Texte in Lesebüchern, aber fast nichts in Geschichtsbüchern. Auch die an der Tellkampfschule benutzten Geschichtsbücher, erschienen 1992, bieten fast nichts an. Lediglich ein Halbsatz für die gymnasiale Oberstufe und das Wort "Zigeuner" in vier Bänden für die Mittelstufe wurden gefunden. Die Geschichtsbücher in Deutschland verschweigen nach einem halben Jahrhundert immer noch einen Völkermord! Versehen, Absicht, Inkompetenz? Wer gibt darauf eine Antwort?
KZ-Gedenkstätten sind wichtige Lernorte: Diese Erfahrung hatten wir schon in Auschwitz gemacht. Sie wurde verstärkt bei einem Besuch in der Gedenkstätte Bergen-Belsen im November 1993. Erneut veranstaltete die Schule einen "Projekttag gegen Rassismus" - Anlässe gab es immer noch. An diesem Tag fuhr eine Gruppe (8.-13. Jahrgang) nach Bergen-Belsen, dem größten und schrecklichsten KZ in der Nähe unserer Stadt. Mit uns fuhren - neben 40 Schülerinnen und Schülern und drei Lehrern - Frau Berta Weiß und Herr Werner Fahrenholz. Sie berichteten uns aus der Zeit ihrer Verfolgung und den Nachkriegsjahren, über fortgesetzte Diskriminierungen und vergebliche Kämpfe um Entschädigung. Es waren dramatische und traurige, haarsträubende und schockierende Geschichten aus Deutschland sowohl vor und während als auch nach dem Krieg. Herr Fahrenholz hatte seine Gitarre dabei und sang ein selbstgeschriebenes Klagelied in der Sprache der Sinti und Roma, in Romanes. Frau Weiß und Herr Fahrenholz haben mehrere Konzentrationslager und Arbeitslager durchlitten. Das Gespräch mit ihnen in der Gedenkstätte gab dem Tag einen wesentlichen Akzent. Wir wollten keinen unverbindlichen Gedenkstättentourismus, wir haben viel gelernt.
Die Gedenkstätte in Auschwitz hat seit ein paar Tagen ein bescheidenes Gegenstück in unserer Stadt. Seit dem 3. März 1997 gibt es ein Mahnmal der Sinti im Altwarmbüchener Moor am Rande Hannovers. Es ist eine hölzerne Gedenktafel mit der Aufschrift "DAS TOR VON Auschwitz WAR DER EINGANG ZUR HÖLLE" (siehe Bilder). Darunter sind die Namen der 80 hannoverschen Sinti verzeichnet, die am 3. März 1943 von hier nach Auschwitz deportiert wurden. Nur wenige kamen zurück. Nach einem halben Jahrhundert des Wartens auf öffentliche Anerkennung des Völkermords an 500.000 europäischen Sinti und Roma beginnen die Überlebenden und ihre Nachkommen, ihre Mahnmale selbst zu errichten. Zuerst setzten die Sinti einen Gedenkstein am Bahnhof Fischerhof in Hannover-Linden, der Drehscheibe für die Deportationen der Juden und der Sinti, nun enthüllte der Verband die Gedenktafel im Altwarmbüchener Moor. Weitere Zeichen an der Bahnstrecke nach Auschwitz sollen folgen: in Peine, Braunschweig und in Berlin-Marzahn, dem Ort des ersten städtischen Lagers für Sinti und Roma im Jahr 1936. Eine Arbeitsgruppe der Schülervertretung der Tellkampfschule hat die Patenschaft für die Mahntafel im Moor übernommen und wird sie pflegen, bepflanzen und sich um sie kümmern.
Ein Zeichen dafür, dass die Zusammenarbeit der Tellkampfschule mit den niedersächsischen Sinti Zukunft hat.