Ort/Bundesland: Mecklenburg-Vorpommern |
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Zwölf Schülerinnen und Schüler des Musikkurses aus der 9., 10. und 12. Klasse des Gymnasium Carolinum nahmen mit ihrem Musiklehrer vom 21. bis 24. Juni 2004 in der Mahn- und Gedenkstätte an Projekttagen teil und wohnten in dieser Zeit in der Jugendherberge nahe dem Lagergelände. Sie brachten ihre Instrumente mit.
Der Schwerpunkt ihrer Arbeit lag auf der Auseinandersetzung mit Musik als Überlebenshilfe im Alltag der Häftlingsfrauen. Die Jugendlichen hatten vor den Projekttagen eine Führung über das Lagergelände Ravensbrück erhalten, einige waren schon öfter in der Gedenkstätte oder an Projekten zu anderen Themen beteiligt gewesen.
Der erste Tag in der Gedenkstätte stand unter dem Motto „Begegnung mit dem Ort“. Im Mittelpunkt standen die Erkundung des Lagergeländes und eine musikbezogenen Führung. An ausgesuchten Orten, über deren Funktion und Geschichte die Jugendlichen vertiefende Informationen erhielten, lasen sie sich Zitate aus Erinnerungsberichten von Zeitzeuginnen vor, in denen Musik eine Rolle spielt, z.B. das Zwangssingen auf der Lagerstraße. Dadurch verknüpfte sich der Ort des ehemaligen Konzentrationslagers automatisch mit dem persönlichen Erleben einzelner, dort gefangener Frauen oder einer Häftlingsgruppe.
Der zweite Tag hatte das Thema „KZ-Alltag in Ravensbrück“. Anhand von im Lager entstandenen Zeichnungen, Handarbeiten, kleinen Büchern und Kunstgegenständen erfuhren die Jugendlichen, welche Bedeutung Kreativität für das Überleben der Gefangenen hatte, aber auch welche Gefahren damit verbunden waren, z.B. einer Lagerfreundin ein kleines Geschenk zum Geburtstag basteln zu wollen. Anschließend vertieften sie sich in der Bibliothek in Erlebnisberichte von Zeitzeuginnen, wobei sie besonders nach Erinnerungen an Situationen mit Musik suchten und diese Seiten kopierten.
Nach dieser eher theoretischen Beschäftigung mit Musik im Lageralltag wollten die Jugendlichen Noten aus dem Lager kennen lernen und selbst musizieren. Wir befassten uns mit der Lebensgeschichte der tschechischen Musiklehrerin Ludmila Peškarová die in Ravensbrück Lieder komponiert und nach ihrer Befreiung aufgeschrieben hatte. Einige der Lieder wurden 2003 auf CD eingespielt, die wir nun gemeinsam anhören konnten. Danach bildeten sich Kleingruppen, die sich Noten von Musikstücken aus Ravensbrück aussuchten, um sie einzustudieren. Die Darbietungen sollten auf Video aufgezeichnet werden. Dazu erhielten die Jugendlichen die Aufgabe, ein „Drehbuch“ für ihre geplante Aufführung anhand folgender Leitfragen zu schreiben und vor dem Musizieren einleitend einige Worte dazu zu sagen.
Ein Ensemble mit zwei Gitarren, Perkussionsinstrumenten, Klarinette und Querflöte hatte sich zuerst mit einem Lied aus Ravensbrück beschäftigt, das ihnen aber zu traurig war. Ihr Stück sollte hingegen Hoffnung machen. So komponierten sie eine eigene Melodie, über die sie dann improvisierten, und nannten ihr Stück „Die Hoffnung stirbt zuletzt“. Sie platzierten sich vor dem Bunker, weil sie sich vorstellten, dass ihr Stück die Hoffnung der Gefangenen zum Ausdruck bringen könnte, die sie empfanden, wenn sie durch das Gitterfenster der Gefängniszelle auf den See blickten und an ihre Befreiung dachten.
Ein Schüler spielte mit Akkordeon ein polnisches Lied mit dem Titel „Modlitwa obozowa“ (Das Lagergebet), das die Überlebende Wanda Poltawska als ein Lieblingslied der polnischen Frauen bezeichnet hatte. Das Lied klang auch diesem Schüler zu traurig, daher transponierte er es von Moll in Dur. Er wollte es zum Gedenken an die polnischen Häftlingsfrauen in ihrem Gedenkraum im Zellenbau spielen. Wegen der schlechten Lichtverhältnisse zogen wir aber in den Raum der Stille und Besinnung um, in dem nur eine kleine Statue, eine Pieta, auf einem Sockel steht. Auch dieser Schüler stellte sich vor, dass zu dem marschähnlichen Lied die Gefangenen als Befreite durch das Lagertor hinaus marschieren könnten.
Drei Schülerinnen, begleitet von einer weiteren am E-Piano, präsentierten das bekannte Abendlied „Der Mond ist aufgegangen“, das die Häftlingsfrauen abends in einem Block manchmal sangen, um die Unruhe zu dämpfen und einschlafen zu können. Die Darbietung der Schülerinnen fand in einer ehemaligen Garage der SS statt, in der heute die Dauerausstellung „Die Sprache des Gedenkens. Zur Geschichte der Gedenkstätte Ravensbrück 1945-1995“ zu sehen ist. Dieser Raum hat eine hervorragende Akustik, die die Stimmen der jungen Frauen glasklar zur Geltung brachte. Sie stellten sich vor die aus roten Häftlingswinkeln genähte Fahne ehemaliger österreichischer Gefangener.
Zwei Schülerinnen mit Querflöte und Geige wollten bewusst vor einer ehemaligen Einzelzelle im Bunker das Gedicht „An meine Brüder in den Konzentrationslagern“ der österreichischen Widerstandskämpferin Käthe Leichter spielen, das Ende der 1960er Jahre von Ernst Strauss für zwei Geigen vertont worden war. Eine Stimme hatten sie für Querflöte umgeschrieben.
Drei Schülerinnen, die sich mit einem Lied der Tschechin Ludmila Peškarová und seinem Entstehungskontext befasst hatten, wollten ihr Stück „Moravo, moravo“ auf dem Appellplatz präsentieren, weil es Peškarová dort im Geiste geschrieben hatte. Sie spielten es, um an diesen Moment zu erinnern, stellten sich aber gleichzeitig vor, dass die Gefangenen die Hoffnung hatten, bald aus dem Lager befreit zu werden. Wegen des heftigen Windes und der schlechten Qualität der Aufnahme wiederholten sie ihre Darbietung in der Dauerausstellung „Ravensbrückerinnen“ in der ehemaligen SS-Kommandantur.
Wer wollte, konnte sich zum Abschluss der Projekttage die Videoaufnahme der eigenen Aufführung ansehen. Einige Schülerinnen und Schüler waren sichtlich bewegt, sich selbst musizieren oder singen zu sehen.
Nach den Sommerferien trafen wir uns in ihrer Schule wieder, um uns gemeinsam alle Videoaufnahmen und Fotos anzusehen und noch einmal über ihre Erfahrungen und Erlebnisse während der Projekttage zu sprechen.
Dies war der erste Teil dieses Projektes. Es folgte die Arbeit mit dem Geschichtskurs, der zu Biografien ehemaliger Ravensbrücker Musikerinnen selbstständig unter meiner Anleitung forschte.
Beide Gruppen beteiligten sich im April 2005 an der Veranstaltung zum 60. Jahrestag der Befreiung in der Aula der Schule unter dem Motto „Schüler laden ein“, und wir erstellten eine neunzig Seiten umfassende Broschüre mit Fotos und den Ergebnissen der Schülerrecherchen als Geschenk für die siebzig eingeladenen Überlebenden von Ravensbrück und ihre Angehörigen. Bei der bewegenden Veranstaltung trugen die Schüler/innen Lieder und Gedichte aus dem Lager vor, die die Überlebenden spontan und sichtlich gerührt mitsangen. Die Schüler stellten das Musikprojekt in einer Multimediashow vor und lasen aus Erinnerungsberichten von Zeitzeuginnen, d.h. nun erinnerten die Schüler/innen selbst an Erinnerungen. Es war ein beeindruckendes Erlebnis, zumal Frauen im Publikum saßen, die das Vorgetragene selbst erlebt und die Lieder selbst im Lager gesungen hatten.
Das Musik-Geschichts-Projekt gewann als Teilprojekt den mit 1000 Euro dotierten 1. Preis beim Wettbewerb um den „Goldenen Floh 2005“, einem Förderpreis für praktisches Lernen in Mecklenburg-Vorpommern. Darüber hinaus wurde es mit dem „Daniel-Sanders-Kulturpreis 2005“ des Landkreises Mecklenburg - Strelitz, dotiert mit 5000 Euro, prämiert.
Bei der Darstellung von Erinnerungsprojekten mit Schülerinnen und Schülern werden verständlicherweise vorwiegend die Seiten präsentiert, die erfolgreich verlaufen sind. Was schwierig war oder nicht funktionierte, wird zumeist ausgeklammert, dennoch ist auch ein Blick darauf aus pädagogischer Sicht für die Planung zukünftiger Projekte wichtig.
Abgesehen von organisatorischen Problemen überraschten mich zu Beginn des Projekts vor allem die Antworten der Schüler auf meine Frage, welche Erwartungen sie mit dem Projekt verbanden. Sie gaben an, nicht über politische Hintergründe der NS- und Lagergeschichte sprechen zu wollen und keine trockene, langweilige Theorie durchnehmen zu müssen. Auffällig war, dass nicht über die Grausamkeiten des Lagers, über Tötungsmethoden oder über den Tod generell gesprochen werden sollte. Eine Führung wollten sie nicht (mehr) machen, da sie diese bereits früher schon bekommen hatten, auch das Krematorium wollten sie nicht noch einmal sehen. Sie wollten nicht zu lange arbeiten müssen und nicht traurig sein. Sie wollten auch nicht im Schwedtsee, der an die Gedenkstätte grenzt, baden oder darauf Boot fahren (Ortskundige baden aus Pietätsgründen nicht im See).
Stattdessen wollten die Schülerinnen und Schüler mehrheitlich Informationen über Musik im Konzentrationslager bekommen und sich praktisch-musikalisch mit dem Thema auseinander setzen.
Wichtig war ihnen das Programm für ihre Freizeit: Einige wollten den Film „Schindlers Liste“ sehen (Dieser Vorschlag kam von Seiten der Schule und des Lehrers, ich hatte abgeraten, weil die Schüler in ihrer Freizeit Abstand vom Thema haben sollten). Sie wollten an einem Abend die Fußball Europa-Meisterschaften sehen (Deutschland spielte), ansonsten Eis essen gehen und generell Spaß haben.
Am Abend des ersten Projekttages dachte ich über die Antworten der Jugendlichen nach und fragte mich: Kann man an Projekttagen in einem ehemaligen Konzentrationslager teilnehmen, ohne Belastungen erleben zu wollen oder zu müssen? Lässt sich die Geschichte des Nationalsozialismus und des Völkermordes überhaupt vermitteln, ohne zu belasten? Verbietet es sich nicht, an einem Ort des Leidens und Sterbens Spaß zu haben?
Weitere Einflussfaktoren in den vier Tagen waren das leider schlechte Wetter, das Außenaktivitäten auf dem Lagergelände erschwerte, und die Zusammensetzung der Gruppe:
Die inhomogene Altersstruktur, d.h. Schüler aus drei verschiedene Klassenstufen, Untergruppenbildungen aufgrund von Faktoren wie Sympathie und Antipathie bzw. Nicht-Kennen der anderen, unterschiedliche musikalische Fähigkeiten.
Manchmal gab es Probleme, die Interessen des Lehrers mit den meinen abzustimmen.
Störend wirkte sich auf die Dynamik aus, dass einzelne Schüler anderweitige, unaufschiebbare Verpflichtungen während der Projekttage hatten (Proben für ein Konzert, Klavierprüfung) und sich mit Erlaubnis des Lehrers verabschiedeten. Er selbst entschuldigte sich einmal für einen halben Tag. Dadurch entstand eine gewisse Unruhe und ich musste mein geplantes Konzept immer wieder modifizieren bzw. stark kürzen.
Auch in der Freizeit, in der der begleitende Lehrer die Aufsicht führte, entfaltete sich eine Eigendynamik. Einige Jugendliche verstießen mehrmals gegen die Hausordnung der Jugendherberge, was den Lehrer verärgerte. So musste an jedem Morgen die Gruppe nach den Erlebnissen der Nacht wieder neu auf das Thema eingestimmt werden.
Am letzten Morgen waren die Jugendlichen für ein abschließendes Gespräch nicht mehr zu gewinnen, da einige aufgewühlt wegen der Missstimmung in der Gruppe und des getrübten Verhältnisses zum Lehrer waren. Um diesen Druck aus der Gruppe zu nehmen, ließ ich sie alle auf Zettel schreiben, was sie in den vergangenen vier Tagen belastet hatte, was sie nicht gut fanden, was sie nicht mit in die Sommerferien nehmen und woran sie nicht mehr denken wollten.
Manche schrieben völlig versunken mehrere Zettel voll! Wir verbrannten anschließend diese Zettel in einem Schuhkarton als eine Art reinigendes Abschiedsritual, was uns alle erleichterte.
Nach diesen für alle Beteiligten anstrengenden Projekttagen würdigte ich für mich selbst und vor ihnen die Leistung der Jugendlichen. Sie hatten sich für diese Projekttage in Ravensbrück entschieden, obwohl sie andere, scheinbar „verlockendere“ Alternativen gehabt hätten, wie z.B. einen Segelkurs auf der Müritz mitzumachen, auf Klassenfahrt zu gehen, mitzuhelfen bei der Arbeit im Naturschutzgebiet Mecklenburg-Vorpommern.
Da es mich interessierte, wie es ihnen mit der Erfahrung in der Gedenkstätte während der Sommerferien ergangen war, traf ich die Projektgruppe zwei Monate später wieder in ihrer Schule, um gemeinsam mit ihnen die Videoaufzeichnungen ihrer Darbietungen anzusehen und aus der Distanz heraus Rückschau zu halten. Die Jugendlichen waren einverstanden, mir anonym einige Fragen zu den Projekttagen schriftlich zu beantworten. Da nicht alle am Treffen teilnehmen konnten , beantworteten acht diese Fragen.
Ich war erstaunt, wie klar sie benennen konnten, was sie in guter und schlechter Erinnerung hatten. Offensichtlich hatte – entgegen meinen Befürchtungen – einiges nachgewirkt. Leider ließ es die Hektik des Schulalltags nicht zu, dass eine kritische Auswertung der Projekttage auch mit den beteiligten Lehrerinnen und Lehrern zustande kommen konnte.
Was hat Dir an den Projekttagen am besten gefallen?
Besonders gut gefiel den meisten, dass wir uns in Gruppen musikalisch mit der Thematik Musik in Konzentrationslagern befasst hatten. Dass sie einerseits gemeinsam, aber doch selbstständig arbeiten durften, empfanden sie positiv, weil dadurch eine „lockere Arbeitseinteilung“ zustande kam. Auch der Besuch der Bibliothek und das Betrachten von im Depot gelagerten Gegenständen wie Zeichnungen, Handarbeiten usw. fand großen Anklang.
Was hat Dir nicht so gut gefallen?
Verunsichert waren die Schüler/innen zu Beginn, weil ich ihnen keine klare Zielstellung für die gesamten vier Tage vorgab. Offener Unterricht und Projektarbeit sind für Schüler manchmal ungewohnt, da sie vorwiegend gelenkten Unterricht kennen und nicht wissen, was sie machen sollen, wenn sie frei arbeiten dürfen. Sie hätten gerne gleich am Anfang Musik gemacht, ohne sich zunächst theoretisch mit der Geschichte des Lagers und dem Häftlingsalltag zu beschäftigen. Einzelne waren nicht glücklich mit der Kleingruppe, in der sie waren oder mit den Methoden (Gruppenmalen), die ich einsetzte. Beklagt wurde, dass es zu wenig Zeit zum Einüben der Musikstücke gab.
Was hat Dir während der Projekttage gefehlt?
Diese Frage verstanden die Schüler/innen nicht so, wie ich sie gemeint hatte, nämlich auf unsere Arbeit bezogen, daher kam es zu interessanten Antworten. Die meisten Antworten machten deutlich, dass ihnen ihr vertrautes soziales Umfeld fehlte (Familie, Freunde, Klassenkameraden). Sie hätten mehr das Gefühl von „Zuhause“ gebraucht, um den Druck, der durch das Thema Konzentrationslager entsteht, abbauen zu können. (Damit ließe sich erklären, dass einige ihre Freunde nachts treffen wollten, was gegen die Hausordnung verstieß oder dass „dringende“ Termine in die Zeit der Projekttage gelegt wurden, die es ermöglichten, vertraute Menschen treffen und an andere Orte - weg von der Gedenkstätte - gehen zu können. Zwei Mädchen konnten sich öfter zu ihren Müttern flüchten, die in der Gedenkstätte arbeiten.) Es fehlte manchen auch Ruhe oder eine konstante Gruppenarbeit aufgrund der Fluktuation sowie anderweitige Beschäftigungsmöglichkeiten.
Hast Du in den Ferien noch einmal an die Projekttage gedacht?
Alle Schüler/innen haben in den Sommerferien noch einmal an die Zeit in der Gedenkstätte gedacht und anderen davon erzählt. Die meisten erinnerten sich an die einstudierte Musik in der Gruppe, spielten sie sogar für sich zuhause wieder an, zeigten anderen die Noten oder Liedtexte. An die Recherche zum Thema dachte ein Schüler, ein anderer an die Übernachtung in Zimmern der ehemaligen SS - Aufseherinnen. Als Tipps für zukünftige Projekttage gaben sie mir mit auf den Weg: Unbedingt wieder Musik machen und das Einstudierte vorspielen lassen. Nicht nur Noten nachspielen, sondern eigene Gefühle verarbeiten lassen. Unbedingt wieder Einblick in das Archiv, das Depot und die Bibliothek sowie in die Noten aus der Lagerzeit nehmen.
Wie siehst Du persönlich Deine Rolle/Deine Ziele weiter in diesem Musik-Projekt?
Gefreut hat mich, was die Schüler/innen für sich mitnehmen konnten: Sie würden anderen Menschen erzählen, dass es so etwas wie Musik im Konzentrationslager gab, würden ihr einstudiertes Lied anderen vorspielen, um sie nachdenklich zu machen. Sie würden ihre Erfahrung anderen vermitteln, dass Musik weiter hilft, Probleme und Ängste zu überwinden. Die meisten planten, sich an der Veranstaltung „Schüler laden ein“ aktiv zu beteiligen, was sie auch taten.
Ein Ziel der Erinnerungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen der nunmehr vierten Generation sehe ich darin, eine „Erziehung zur Selbstreflexion“ (Adorno) anzustreben. Didaktisch-pädagogische Methoden, die den Menschen ganzheitlich ansprechen, erleichtern oftmals den Zugang zu den Themen Nationalsozialismus und Völkermord, ohne dass damit die Ernsthaftigkeit und Seriosität von Erinnerungsarbeit verloren gehen. Eine solche Möglichkeit bietet nach meiner Auffassung das Medium Musik in der historisch - politischen Bildungsarbeit, sofern es in angemessener Weise eingesetzt wird, da junge Menschen im allgemeinen eine hohe Affinität zu Musik haben. Diese „Brückenfunktion“ hin zu Geschichte bieten auch andere kreative Methoden wie Theaterarbeit, kreatives Schreiben oder bildende Kunst.
Vermutlich wird sich eine Erinnerungskultur für Kinder und Jugendliche eher in außerschulischen Räumen entwickeln, denn das auf formale Bildung ausgerichtete deutsche Schulsystem bietet dazu kaum Möglichkeiten.
Fatal wäre eine Erinnerungskultur, die in Ritualen erstarrt. So wurde zum 60. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück im Rahmen der Feierlichkeiten das Moorsoldatenlied gesungen. Nach allem, was über Musik in Ravensbrück bekannt ist, spielte dieses Lied bei den Häftlingsfrauen dort keine Rolle. Trotzdem sollte es bei der Feier gesungen werden, noch dazu von Schüler/innen, die an den Projekttagen in Ravensbrück teilgenommen und anderes über Musik in diesem Lager erfahren hatten. In ihnen und mir sträubte sich alles, dieses Lied zu singen, um die ehemaligen Häftlingsfrauen zum Mitsingen anzuregen, und dies einen Tag nach ihrer eigenen Veranstaltung in der Schule, wo viele Überlebende spontan in ihren Gesang eingestimmt hatten, weil sie „ihre“ Lieder aus dem Lager wiedererkannt hatten!
Werden in Zukunft Schüler/innen bei Gedenkveranstaltungen nicht ihre eigene Musik machen dürfen, sondern die, die ihnen vorgeschrieben wird, die womöglich mit dem Ort, an dem sie singen oder spielen, nichts zu tun hat? Das wäre meiner Meinung nach das Gegenteil von dem, wie Musik zum lebendigen und gleichzeitig ernst zu nehmenden Erinnern in Zukunft gehören sollte.
Darf es an den Verbrechensorten überhaupt Musik geben? Wenn ja, sollte dann Musik der Erinnerung und des Gedenkens nicht eher das Gegenteil von dem sein, was es bisher an Übereinkünften und Ritualen bei Gedenkveranstaltungen gab? Eine solche Musik dürfte ein Mitsingen nicht erzwingen, sie könnte bequemen, vertrauten Hörgewohnheiten zuwider laufen, sie dürfte vielleicht nicht einmal als „schön“ empfunden werden, ein solche Musik könnte fremd, ungewöhnlich klingen, sie müsste aufwühlen, beunruhigen, verstören, ja sie könnte durchaus auch an die Grenzen des Erträglichen gehen.