Schule: XXXI. Allgemeinbildende Oberschule Ludwik Zamenhof in Łódź |
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Anna Nowak XXXI. Allgemeinbildende Oberschule Ludwik Zamenhof ul. Kruczkowskiego 4 PL 93-236 Łódź Tel.: +48 42 643 14 15 Fax: +48 42 643 15 30 |
Łódź-Doły ist eine typische Anhäufung von Wohnblocks aus Beton. Hier befanden sich von Dezember 1942 bis Mitte Januar 1945 zwei Kinderlager: in der ulica Przemysłowa das so genannte Polen-Jugendverwahrlager der SS, in dem polnische Kinder und Jugendliche Zwangsarbeit verrichten mussten, und in der ulica Sporna das so genannte Germanisierungslager, in dem andere polnische Kinder und Jugendliche zu Deutschen gemacht werden sollten. 1947 ließ die kommunistische Stadtverwaltung sämtliche Überreste dieser Lager beseitigen, damit auf dem Gelände ein "sozialistisches, optimistisches Stadtviertel" ohne schreckliche Vergangenheit entstehen konnte.
Bis 1964 wurde nichts über die Lager berichtet. 1968 wurde erstmals davon gesprochen, dass an das Leid der Kinder erinnert und ihnen ein Denkmal gesetzt werden müsse, das dank der Mithilfe von Jugendlichen in ganz Polen aus dem Erlös einer Schrott- und Altpapiersammlung gebaut werden sollte. Das Denkmal, das am 9. Mai 1971 enthüllt wurde, zeigt eine nackte Jungengestalt vor einem gebrochenen Herzen (siehe Bilder). Die Menschen, die hier mehrmals im Jahr zusammenkommen, haben zumeist an diesem Ort mehr als ihre Kindheit verloren. Eigentlich bewahrt nur diese Gruppe, die über ganz Polen verstreut lebt, von Jahr zu Jahr kleiner wird und heute vielleicht noch 500 Personen zählt, die Erinnerung an die Vergangenheit.
Die Autorinnen der Arbeit, Schülerinnen eines Gymnasiums in Łódź, berichten, wie die Idee zu ihrem Projekt entstand.
Am Denkmal im Park treffen wir auf eine alte Frau, die ein Grablicht anzündet.
"Von Jahr zu Jahr verfällt es immer mehr," sagt sie leise zu uns, "in ein paar Jahren ist niemand mehr da, und ich weiß nicht, ob sich dann überhaupt noch jemand um diesen Ort kümmert. Wenn man bedenkt, wie viel Leid in Vergessenheit gerät."
- "Wir haben gehört, dass hier ein Konzentrationslager für Kinder war. Waren Sie in dem Lager?"
- "Ich war die Nummer 11. Im Lager waren wir alle nur Nummern, man hat uns unsere Kindheit, unsere Freiheit, die Familie und die Identität genommen; manchen sogar das Leben."
So stießen wir auf die Geschichte des Lagers, das sich einmal auf dem Gelände des heutigen Parks befand. Einige Tage später lud uns Frau Barczyńska – unsere Bekanntschaft vom Denkmal – in den Kolbe-Klub ein, damit wir uns dort mit anderen Überlebenden aus dem Lager in der ulica Przemysłowa unterhalten konnten. Diese Begegnung machte uns klar, welch ein großartiges lebendiges Geschichtsbuch Menschen sind, an denen wir auf der Straße vorübergehen. Aber sie zeigte uns auch, wie viele Dinge und Themen um uns herum noch übergangen und vergessen werden, die eigentlich mehr Aufmerksamkeit verdienten.
Über das Lager zu sprechen, war für jeden Überlebenden eine schwierige Erfahrung, die eine Menge Emotionen weckte. Doch stimmen alle darin überein, dass ihnen am meisten daran gelegen ist, "ihr" Lager nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, damit künftige Generationen von ihrer Tragödie erfahren und nicht zulassen, dass sie sich wiederholt. Mit unserer Arbeit erfüllen wir die Bitte der ehemaligen Häftlinge aus der ulica Przemysłowa: Sie ist ein Stein zum Bau einer "Brücke der Erinnerung", die den Bogen in die nächsten Jahrhunderte schlägt.
Das Kinderlager in Lodz wurde auf Grund einer Verordnung Heinrich Himmlers vom 28. November 1942 errichtet. Am 11. Dezember 1942 kam der erste Transport an. Ein Jahr später soll Himmler – so als habe er seinen Beschluss begründen wollen – zu höchsten und höheren SS-Funktionären gesagt haben: "Den anderen Nationen sollt ihr alles wegnehmen, was für unser Blut irgendwie von Wert ist, notfalls auch dadurch, dass man ihnen die Kinder wegnimmt." Offiziell diente das Lager dazu, minderjährige vermeintliche "Verbrecher" von der deutschen Bevölkerung in Polen fern zu halten und sie im Sinne der Nazi-Ideologie zu erziehen.
Die Lagerbelegschaft wechselte in Folge der hohen Sterblichkeit sehr oft. Bis zu 20.000 Kinder im Alter zwischen zwei und 16 Jahren könnten das Lager durchlaufen haben. Die genaue Anzahl ist nicht bekannt, da die Lagerverwaltung das Häftlingsverzeichnis absichtlich fälschte, die Anzahl der Sterbefälle herabsetzte und falsche Todesursachen angab. Die Sterblichkeit war sehr hoch, obwohl es im Lager keine Gaskammern und Krematorien gab. Weil dort so viele Kinder umkamen, wurde das Litzmannstädter Lager oft "Klein-Auschwitz" genannt.
Die Häufigkeit der Transporte lässt sich an den Nummern ablesen, die den kleinen Häftlingen der Reihenfolge nach gegeben wurden, z.B. bekam der zwölfjährige Tadeusz Młynarczykowski aus Dębica, der am 21. April 1943 eingeliefert wurde, die Nummer 1416 und die fünfjährige Maria Giersztol, die am 10. September 1943 aus Mosina kam, war die Nummer 5899. Die Kinder kamen aus unterschiedlichen, oft nichtigen Gründen ins Lager, z.B. wenn sie bei kleinen Vergehen gefasst wurden. Es wurden auch Kinder eingeliefert, deren Eltern verhaftet oder hingerichtet worden waren (siehe pdf-Dokument).
Im Lager begann und endete jeder Tag mit einem Appell. Nach dem Morgenappell wurden die kleinen Häftlinge zur Arbeit eingeteilt. Sie hatten verschiedene Aufgaben (Nähen, Nadeln gerade biegen usw.), am häufigsten wurden sie für die Bedürfnisse der Wehrmacht eingesetzt (siehe pdf-Dokument).
Die schrecklichsten Erinnerungen sind mit der so genannten "Krankenstube" verbunden, die in Wirklichkeit eher eine "Sterbestube" war. Dorthin kamen schwerkranke Kinder, die sich nicht mehr aus eigener Kraft fortbewegen konnten. Die Krankenbaracke leitete die Lagerführerin Sydomia Bayer, die diese Stelle nur deswegen erhalten hatte, weil sie vor dem Krieg einen Erste-Hilfe-Kurs abgeschlossen hatte. Mit einem Stock "untersuchte" sie, ob die Kinder wieder gesund waren. Ihr war es unerträglich, wenn sie dalagen und nichts taten.
Maria Jaworska (Nummer 501) erinnert sich, dass Sydomia Bayer im Februar 1944 die zehnjährige Teresa Jakubowska barfuss auf den Hof scheuchte, weil sie ins Bett gemacht hatte. Sie schlug sie und übergoss sie noch mit kaltem Wasser. Ein paar Tage danach starb Teresa. In den Lagerdokumenten wurde als Todesursache Tuberkulose angegeben. Die Kinder wurden für Versuchszwecke missbraucht, indem sie mit verschiedenen Krankheiten infiziert und angeblich neue neue Heilmethoden an ihnen ausprobiert wurden. Populäre Heilmittel waren Salz, das Gelbsucht heilen sollte, und Lisol, um Wunden zu desinfizieren.
Eine spezielle Gruppe unter den Häftlingen bildeten diejenigen Kinder, die zur so genannten Eindeutschung bestimmt waren und nach Deutschland gebracht werden sollten. Eine erste Begutachtung dieser Kinder fand bereits in der Lagerschule für die Jüngsten statt, wo ihnen Deutsch und Disziplin beigebracht wurde. Die weitere Selektion nach rassistischen Gesichtspunkten wurde während Sonderappellen in Anwesenheit von Lagerkommandant Ehrlich und Mitgliedern des Rasse- und Siedlungshauptamts (RuSHA – Główny Urząd Rasy i Osadnictwa) getroffen.
Das Hauptkriterium war ein so genanntes arisches Aussehen, d.h. blaue Augen, helle Haut und blondes Haar. Danach wurden die potenziellen "Deutschen" in einem ehemaligen Klostergebäude in der ulica Sporna 73 (im so genannten Rasseamt) untergebracht. Hier galt das Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche. Belohnt wurden Kinder, die gut lernten und sich an die Regeln des Lagerlebens hielten. Sie bekamen z.B. Sonderrationen wie Brötchen mit Margarine, Marmelade oder Wurst, ja sogar Süßigkeiten. Im Lager wurde eine Atmosphäre gegenseitigen Misstrauens geschaffen und die Überzeugung verbreitet, dass der Lagerleitung nichts verborgen blieb. Der Aufenthalt hier dauerte höchstens ein paar Wochen. In dieser Zeit wurden die Kinder beobachtet, untersucht und danach über ihr weiteres Schicksal entschieden: entweder wurden sie als "rassisch wertvoll" oder "rassisch wertlos" befunden (siehe pdf-Dokument).
Die meisten Kinder in der ulica Przemysłowa starben an Krankheiten, den Folgen von körperlichen Verletzungen oder physischer Erschöpfung. Doch etwa 1000 Personen erlebten noch die Befreiung. Ungeklärt ist bis heute das Schicksal einer nicht näher festzustellenden Anzahl kleiner Häftlinge; denn es gab auch Kinder, für die das Lager nur eine Durchgangsstation war, und die danach an andere Orten weitergeleitet wurden.
Die Deutschen verließen das Lager am 18. Januar 1945, indem sie die Flucht ergriffen (siehe pdf-Dokument). Ein Teil der Häftlinge verschwand in der ihnen unbekannten Stadt. Sie wurden dann hungrig und durchfroren in leeren Häusern, Läden, Kellern oder Hauseingängen wieder aufgefunden. Einige fanden Schutz und Aufnahme bei Lodzer Familien, andere zogen weiter nach Hause. Etwa 230 Kinder, die sich in Lodz auf den Straßen herumtrieben, kamen in die von der Stadtverwaltung eiligst eingerichteten Städtischen Fürsorge-Bereitschaft.
Wie sah das weitere Leben der ehemaligen Lagerinsassen aus? Ist das menschliche Gedächtnis selektiv genug, um einen Alptraum, aus dem man nicht mehr aufwachen kann, aus der Erinnerung zu verbannen? Oder haben sie sich ihr Leben eingerichtet, gelernt, wieder Menschen zu vertrauen und ohne Angst vor einer "nächtlichen Visite" der Wachmänner einzuschlafen?
Die Rückkehr ins normale Leben war schwierig. Die seelischen Wunden, welche die Häftlinge im Lager erhalten hatten, zeigten sich in vielen Lebensbereichen. Die Wirklichkeit ohne Stacheldraht war anders; lange Zeit weckte sie kein Vertrauen. Manche Kinder wie z.B. Zofia Kowalewska (Nummer 5963) fürchteten sich noch lange nach Kriegsende vor jedem Menschen, der nur in ihre Richtung schaute.
Die unmenschlichen Erfahrungen prägten das gesamte Erwachsenenleben der ehemaligen Häftlinge. Eine angegriffene Gesundheit, vor allem aber die Folgen der seelischen Verletzungen machen sich noch Jahre später bemerkbar. Wacława Barczyńska erzählt, dass sie bis heute nachts oft schreit. Sie hat nervlich bedingte Wahnvorstellungen und sieht dann Ratten auf dem Boden herumlaufen. Im Übrigen leiden alle ehemaligen Häftlinge an Ängsten, die aus der Lagerzeit stammen.
Bei ihrer Arbeit am Projekt Polen-Jugendverwahrlager konnten sich die beiden Autorinnen überzeugen, dass es nach Jahren immer weniger Zeugen gibt und mit der Zeit die Fakten verwischt werden, die Erinnerungen trügen und Spuren des Verbrechens verschwinden. Die bruchstückhaften Berichte der ehemaligen Häftlinge bieten die einzige Gewähr für die Kontinuität der Geschichte des Kinderlagers sowie das einzige Wissen, das den Nachkommenden über Leben und Tod hinter den Drähten des "Kleinen Auschwitz" vermittelt wird. Die heutige Jugend weiß größtenteils nichts von jenen Ereignissen, aber die wenigen noch lebenden Zeuginnen und Zeugen des Verbrechens wollen nicht, dass es vergessen wird. Denn wir dürfen nicht vergessen.