Ort/Bundesland: Brandenburg |
|
Hannelore Franek Bad Wilsnacker Str. 18 D-19322 Wittenberge Tel.: +49 (0) 3877 92 470 |
Im Rahmen der Vorbereitungen auf ihre 700. Jahrfeier regte die Stadt Wittenberge die Schüler des Geschichtskurses (Jahrgangsstufe 11) der Gesamtschule Wittenberge an, die Erforschung eines dunklen Kapitels Stadtgeschichte zu übernehmen: die des vor Ort kaum bekannten KZ-Außenlagers Neuengamme in Wittenberge. Unterstützt wurde diese zweijährige schulische Projektarbeit durch ehrenamtliche, lokalgeschichtlich versierte Helfer. Für die Gestaltung der Ausstellung der Forschungsergebnisse stand den Schülern eine Bühnengestalterin und ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der FU Berlin zur Seite.
In einer ersten Zusammenkunft wurde den Schülern im Oktober 1998 seitens der Stadt das von der RAA Wittenberge und dem Brandenburgischen Museumsverband geförderte Projekt und seine Zielsetzung vorgestellt. Auch sie wussten mehrheitlich nichts von der Existenz eines KZ-Außenlagers auf dem Gelände der ehemaligen Zellstoff- und Zellwollwerke, zumal dieses Gebäude nach der Wende für neue Industrieanlagen komplett abgerissen worden war. Die Schüler sollten jedoch nicht nur forschen, sondern auch - abhängig von ihren Ergebnissen - adäquate Präsentationsformen konzipieren. Trotz anfänglicher Skepsis waren die Schüler schnell neugierig und für das Vorhaben zu begeistern. In den folgenden Treffen lernten die Schüler unsere ehrenamtlichen Helfer kennen und formierten vier Arbeitsgruppen mit unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten:
Die Gruppen arbeiteten regelmäßig nachmittags außerhalb des Unterrichts. Ende 1998 wurden erste Ergebnisse dann gemeinsam gesichtet, ausgewertet und z.T. mit Hilfe der "Ehrenamtlichen" aufbereitet. Eine Projektwoche im Anschluss nutzten die Schüler zu einer zweitägigen, intensiven Recherche im Archiv Neuengamme. Die Mitarbeiter des Archivs hatten uns alle relevanten Materialien herausgesucht und uns zur Weiterarbeit an der Schule auch in Kopie zur Verfügung gestellt. Die erste Gruppe fand in den Unterlagen der Friedhofsverwaltung sehr schnell Hinweise auf die Existenz eines Massengrabes in Wittenberge. Hier ist höchstwahrscheinlich nur ein kleiner Teil der Häftlinge begraben, da die Zahl der Toten von den Totenlisten abweichen und auch die Häftlingsberichte auf eine weit größere Zahl an Opfern schließen lassen.
Der zweiten Gruppe ging es vor allem darum, das KZ-Außenlager innerhalb des Firmengeländes in Form eines Modells zu rekonstruieren. Erschwert wurde dieses Vorhaben vor allem dadurch, dass es auf dem Grundstück der Zellstoff- und Zellwollwerke kaum noch Gebäude aus der Zeit vor 1990 gab, denn mit der Wende wurde das Werk geschlossen und weitgehend abgerissen, um Platz für neue Industrieanlagen zu schaffen. Orientieren konnten sich die Schüler zunächst nur an einigen Fundamentresten, die Ende 1998 noch existierten. Über ehemalige Mitarbeiter erhielten wir einen Plan des früheren Werkes. Obwohl das Außenlager auch in diesem Lageplan nicht offiziell auftauchte, ergab sich aus den Unterlagen, dass nach dem Krieg die Berufsschule Wittenberge im ehemalige Gebäude der SS-Wachmannschaft untergebracht war. Das Lehrlabor der Berufschule wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer Baracke des ehemaligen KZ-Außenlagers eingerichtet. Sowohl die Lagerbaracke als auch das ehemalige Gebäude der SS-Wachmannschaft wurden in den sechziger Jahren zu Gunsten eines Neubaus der Berufschule abgerissen. Zudem lieferten uns auch die in Neuengamme untersuchten Häftlingsberichte in Form von Skizzen und Beschreibungen Anhaltspunkte für den Lageraufbau. Das auf der Grundlage dieser verschiedenen Angaben entstandene Modell, das der Realität hoffentlich relativ nahe kommt, wurde Teil unserer Ausstellung.
Die Literaturrecherchen der dritten Gruppe ergaben für unsere Arbeit nur sehr wenige Hinweise auf das Thema KZ-Außenlager Wittenberge, das in der Fachliteratur bislang nur marginal behandelt wird [siehe Bibliographie]. Auch die Internetrecherchen der vierten Gruppe lieferten keine Angaben zu unserem Thema, daher konzentrierten sich diese Schüler auf die Suche nach anderen Schulprojekten zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust, die uns z.T. auch Anregungen für unsere eigene Arbeit lieferten. Zudem informierten sie ihre Mitschüler über die aktuelle Entwicklungen in der Debatte um die Entschädigungszahlungen an die ehemaligen Zwangsarbeiter. Die Informationen über das Leben im Lager in Wittenberge bezogen die Schüler vorwiegend aus den Erinnerungsberichten der ehemaligen Häftlinge, deren Aussagen sie zusammenfassten [siehe Dokumente]. Von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme erhielten wir die Adressen ehemaliger Häftlinge, mit denen wir in Kontakt treten wollten. Leider blieben unsere Briefe ohne Resonanz.
Auch geplante Gespräche mit Zeitzeugen aus Wittenberge beschränkten sich - trotz mehrerer Aufrufe in der lokalen Presse und Aushängen in Altenheimen [siehe Dokumente] - auf ein Treffen mit einer alten Dame, die während des Krieges dienstverpflichtet wurde und im Zellstoff- und Zellwollwerk arbeiten musste. Für die Schüler war dieses Gespräch mit der Zeitzeugin, der bei diesem Treffen längst verdrängte Erinnerungen wieder bewusst wurden, eine wichtige Erfahrung, die Geschichte erlebbar und konkret fassbar machte.
Nach Sichtung und Auswertung aller vorhandenen Materialien ging es in der zweiten Phase der Projektarbeit - mit Beginn des Schuljahres 1999/2000 - um die Erarbeitung einer adäquaten Präsentation der Ergebnisse. Nach Gesprächen mit dem Leiter des Stadtmuseums Wittenberge entstand die Idee, die Projektarbeit in Form einer (Wander-)Ausstellung anlässlich der 700. Jahrfeier der Stadt der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Um Anregungen in Bezug auf die mögliche Präsentation der Projektergebnisse zu erhalten, besuchten die Schüler die zu dieser Thematik professionell gestaltete Ausstellung in der Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen. Unter Anleitung einer Bühnengestalterin arbeiteten die Schüler sehr selbständig an den einzelnen Ausstellungstafeln [siehe Fotos], die jeweils einem Thema des Gesamtprojektes gewidmet wurden. Aufgestellt wurden die Tafeln als begehbarer Raum mit vier Innen- und Außenflächen. Die Innenseiten der Tafeln sind farblich dunkel gehalten, um symbolisch die beschriebenen Gräuel des Lagerlebens zu unterstützen. Auf ihnen sind das Lagermodell, ein Häftlingsbericht, der Lageplan und Hinweise zum Leben im Lager dargestellt worden. Die Außenflächen, auf denen übergreifende Informationen präsentiert werden, gestalteten die Schüler farblich heller: Neben einer Abhandlung über das Thema Zwangsarbeit in Deutschland und Wittenberge, findet sich hier auch ein Bericht über die Produktion von Zellwolle aus Stroh, die u.a. als Schießbaumwolle gebraucht wurde, sowie eine Beschreibung des Projektverlaufs.Die Eröffnung der Ausstellung im Rahmen der Festwoche am 18. Juli 2000 im Beisein vieler Ehrengäste und die Würdigung ihrer Arbeit in der Öffentlichkeit ist für die Schüler ein unvergessliches Erlebnis geworden.
Die Arbeit an diesem Projektvorhaben hat gezeigt, dass Schüler sehr wohl selbständig, kreativ und zeitintensiv arbeiten, wenn sie von einer Aufgabe überzeugt sind. Die zweijährige Arbeit an dem Projekt, die - mit Ausnahme der Projektwochen - außerhalb des Unterrichts stattfand, hat zu einem positiven Zusammengehörigkeitsgefühl im Kurs geführt. Die Erkenntnis, dass man gemeinsam sehr viel mehr erreicht als allein, dass Forschungsarbeit aber auch mit Misserfolgen verbunden sein kann, war eine wichtige Erfahrung für die Schüler. Im Verlauf der Projektarbeit war dabei deutlich zu beobachten, wie die Schüler zunehmend ihren eigenen Standpunkt zu einzelnen Inhalten des Projekts entwickelten und vehement verteidigten, wenn es z.B. um deren Präsentation in der Ausstellung ging.
Methodisch hat sich die Gruppenarbeitsform als sehr sinnvoll erwiesen. Die einzelnen Gruppen, die sich selbständig zusammensetzten, wurden zunächst - mit Unterstützung der ehrenamtlichen Helfer - inhaltlich und methodisch angeleitet. Dies geschah u.a. im Hinblick auf ein selbständiges und kritisches Quellenstudium, an das die Schüler in der elften Klasse erst herangeführt werden mussten. Wichtig war jedoch, dass die Schüler ihr eigenes Projekt entwickelten und nicht die Arbeitsvorschläge der Erwachsenen ausführten. Im Verlauf der Projektarbeit wurden die Schüler in ihren Arbeitsbereichen zunehmend selbständiger, entwarfen neue Ideen und veränderten die Zusammensetzung der Gruppen entsprechend der Erfordernisse der Arbeit. In gruppenübergreifenden "Arbeitsberatungen" wurde in der abschließenden Projektphase die Arbeit der einzelnen Gruppen aufeinander abgestimmt.
Inhaltlich hat die Beschäftigung mit der Thematik Zwangsarbeit aus lokalhistorischer Sicht das Fach Geschichte für die Schüler erlebbar gemacht. Die Erlebnisberichte von Überlebenden [siehe Dokument] riefen bei den Schülern große Nachdenklichkeit hervor, besonders nachhaltig war der Schock, als sie realisierten, dass die Häftlinge in ihrem Alter waren. In vielen Diskussionen stand auch das Verhalten der Bevölkerung während des Dritten Reiches im Mittelpunkt. Für mich als Lehrerin bedeutete das, stärker darauf zu achten, sehr viel behutsamer und sensibler auf Schülerreaktionen einzugehen.