Ort/Bundesland: Thüringen |
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Barbara Thimm Jenaer Str. 2/4 D- 99425 Weimar |
"Leben mit der Erinnerung!" Vielleicht beschreibt dieser Satz in seiner Mehrdeutigkeit am besten den Ausgangspunkt und die Zielrichtung eines vielschichtigen Projektes, das im Jahr 2001 unter dem Titel "Lange her und nicht vorbei...." als russisch-deutsche Jugendbegegnung in Weimar und St. Petersburg durchgeführt wurde. Veranstaltet von der Europäischen Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätte Weimar, war die Idee zusammen mit jugendlichen Teilnehmenden des Programms für Menschenrechte bei der russischen Organisation "Memorial"/ St. Petersburg entwickelt worden. Begleitet wurde das Projekt von einem (deutschen) Historiker, dessen Arbeitsschwerpunkt das Führen von Zeitzeugeninterviews ist.
Im Verlauf des zweiteiligen Projektes bereiteten sich 20 russische und deutsche Jugendliche und junge Erwachsene darauf vor, in St. Petersburg ehemalige russische Kriegsgefangene zu interviewen, die die Erfahrung der Gefangenschaft in deutschen Konzentrationslagern gemacht hatten. Dabei galt das Interesse der Gruppe nicht allein den historischen Informationen zur Vor- und Nachgeschichte und den Erlebnissen in den Lagern, auch wenn das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen in deutschen Konzentrationslagern ein vergleichsweise wenig beachtetes Thema ist. Da es sich bei fast allen Beteiligten um historische Laien handelte, spielten auch andere als geschichtswissenschaftliche Fragen eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Das waren zum einen Fragen, die direkt oder indirekt von den Jugendlichen im Gespräch mit den Zeitzeugen gestellt wurden: Woran erinnert sich der/die Gesprächspartner/in? Welche Bedeutung haben diese Erinnerungen für ihn/sie heute? Warum hat er/sie sich zum Gespräch bereit erklärt? Gibt es eine persönliche Schlussfolgerung aus diesen Lebenserfahrungen? Und Fragen, die sich die Jugendlichen selbst im Laufe dieses Projektes stellten: Ist es legitim schmerzliche Erinnerungen mit Fragen wieder ins Bewusstsein zu holen? Will ich von diesen Erfahrungen hören und warum? Haben die erzählten Geschichten eine Bedeutung für mein Leben heute? Und: Haben wir eine unterschiedliche Perspektive, weil wir deutsche und russische Jugendliche sind?
Der Anlass für das gemeinsame Projekt war ja ein "verbindendes" Moment: Die Geschichte Deutschlands und Russlands hatte sich u.a. an diesem Punkt überschnitten. Die Ereignisse während des Nationalsozialismus hatten die Großeltern (bzw. Ur-Großeltern) der Teilnehmer/innen als Teil der deutschen "Tätergesellschaft" bzw. der sowjetischen "Kriegsopfergesellschaft" miterlebt, sie waren gegenseitig zu Feinden erzogen worden, und sie haben ihre Perspektive auf die Ereignisse in ihren Familien weitergegeben. Bedeutet diese Tatsache zwangsläufig, dass deutsche und russische Enkel (und Ur-Enkel) sich unterscheiden im Interesse an dieser Geschichte, in ihren Fragen, in ihrer Wertung, in ihrer Abwehr und "Betroffenheit"?
Um dies miteinander herausfinden zu können, sah das Programm zunächst eine intensive Phase des Kennenlernens vor. In Weimar gehörten der Besuch der Gedenkstätten Buchenwald und Dora-Mittelbau und die Vermittlung von Grunddaten zur deutschen und sowjetisch/russischen Geschichte zum Programm, in St. Petersburg folgte eine intensive Beschäftigung mit der "Blockade Leningrads" und der Repräsentation dieses Ereignisses in der heutigen Stadt St. Petersburg (siehe Dokument: Ablauf der Projektteile in Weimar und St. Petersburg).
(siehe Dokument:"Oral history und Jugendbildung")
Der Kontakt zu den Gesprächspartner/innen wurde mit Hilfe von "SPROBUFKL", einer St. Petersburger Organisation von ehemaligen KZ-Häftlingen, organisiert. Da nicht mehr viele ehemalige Häftlinge leben oder zu einem Gespräch bereit (oder in der Lage) sind, war zunächst das einzige "Auswahlkriterium", Menschen zu treffen, die entweder das KZ Buchenwald oder in einem der Außenlager gewesen waren, da das der Ort war, mit dem sich das Seminar beschäftigt hatte. Für die Zeitzeugeninterviews war eine Befragungsmethode festgelegt worden, die die Teilnehmer/innen dazu befähigen sollte, das Interview selbst anzuleiten und möglichen Problemen zu begegnen [siehe Dokument: Fragebogen]. Die Interviews wurden jeweils in den Wohnungen der Zeitzeugen in St. Petersburg durchgeführt. Den eigentlichen Interviews gingen (wenn möglich) Vorgespräche voraus, in denen den Interviewpartnern/innen zunächst das Projekt, die Interviewmethode und der inhaltliche Rahmen vorgestellt wurden. Während des eigentlichen Interviews stellten die Jugendlichen ihre Fragen jeweils in ihrer Muttersprache. Die Zeitzeugen/innen antworteten auf Russisch, das von der Dolmetscherin abschnittsweise ins Deutsche übersetzt wurde.
Die Planung und Durchführung der Zeitzeugeninterviews wurden zu einer Erfahrung von hoher Bedeutung. In diesen Gesprächen erlebten die Teilnehmenden, dass es nicht "die Geschichte" gibt, sondern dass Geschichtsschreibung sich aus vielen Perspektiven auf dieselben Ereignisse zusammensetzt (siehe Dokument: Auszüge aus dem Interview mit Anatolij Kuleschow). Ihnen wurde konkret bewusst, dass die Darstellung vom Gesprächsanlass und den Fragenden, der Lebenssituation der Befragten (z.B. auch hinsichtlich der Debatte um Entschädigungszahlungen in Russland), der nachträglichen Sinngebung der eigenen Erzählung u.ä. beeinflusst wird. Und sie erlebten, dass die Erzählungen streckenweise mehr über die Bedeutung der Erinnerung in der Gegenwart der Befragten aussagen, als über die damaligen Ereignisse. Es blieben aber auch Unsicherheiten. Viele Teilnehmenden viel es schwer, ihre in hohem Maße bestehende, aber auch durch die Arbeit freigesetzte Emotionalität mit der rationalen Befragungsmethode zu verknüpfen. Moralische und ethische Bedenken hinsichtlich der Interviews begleiteten einige der Teilnehmer/innen während des ganzen Projektes.
Sowohl die Organisatoren/innen als auch die Teilnehmer/innen waren mit vielen Fragen in dieses Projekt gegangen und viele beschritten während der zwei Projektwochen völlig unbekannte Pfade, die auch nicht immer zu befriedigenden Zielen führten. Insgesamt überwog jedoch am Ende die Überzeugung, dass der Versuch, sich unter Einbeziehung der unterschiedlichen kulturellen, historischen und gesellschaftlichen Prägungen mit einem so schwierigen Thema der gemeinsamen Geschichte auseinander zu setzen, für alle Beteiligten ein Gewinn war und die konzeptionelle Ausrichtung des Projektes - auch vor dem Hintergrund der Gestaltung Europas - richtungsweisend ist. Der sich derzeit vollziehende kulturelle Paradigmenwechsel schließt auch die Auseinandersetzung mit der Geschichte ein. Die Projektgruppe tat dies nicht nur, indem sich die russischen und deutschen Teilnehmer/innen die in ihren Staaten üblichen Herangehensweisen und Wertungen gegenseitig zu vermitteln suchten. Vielmehr suchten und fanden sie einen gemeinsamen, eigenen Weg.
Achtundzwanzig Jugendliche und Erwachsene haben in diesem Projekt dem Vergessen das Erinnern entgegengestellt. Sie formulierten Fragen (und Antworten) für ihre Gegenwart. Die Erfahrungen und Ergebnisse dieses Projektes wurden in einem zweisprachigen, deutsch-russischen Buch dokumentiert, das im Januar 2003 erschien (siehe Literatur). Internationale Jugendbegegnung und "Oral history" - das Projekt "Leben mit der Erinnerung" verknüpft beides, um interkulturelles Lernen an einem schmerzhaften Punkt der gemeinsamen Geschichte zu ermöglichen: dem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion 1941-1945 und dessen Bedeutung für die Projektbeteiligten heute.