Ort/Bundesland: Sachsen |
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Als die Städtischen Bühnen Chemnitz im November 1995 an unserem Gymnasium nachfragten, ob man sich vorstellen könne, mit Unterstützung des Theaters ein Stück des Japaners Fumikatsu Inoue zum Leben und Wirken des polnischen und jüdischen Pädagogen Janusz Korczak zu inszenieren, war die Begeisterung groß. Allerdings waren der Anspruch und die Erwartungen der Initiatoren (Dr. Voigt, Direktor des Instituts für kulturelle Infrastruktur Sachsen; Dr. Möller, Chefdramaturg der Städtischen Bühnen Chemnitz) hoch: Das Stück sollte unter Anwesenheit einer breiten Öffentlichkeit und des Autors am 9. November 1996, dem Jahrestag des Novemberpogroms, im Chemnitzer Schauspielhaus als deutsche Erstaufführung seine Premiere erleben - ein unglaubliches Projekt! Eine Riesenchance für unsere musisch interessierten und talentierten Schülerinnen und Schüler.
Sie zu finden war nicht schwer, und so versammelten sich bei einer ersten Zusammenkunft im Januar 1996 ca. 20 siebzehn- und achtzehnjährige Schüler und Schülerinnen der 11. und 12. Klassen, die sich über das dank der Unterstützung des Fachbereichs Anglistik der Universität Chemnitz inzwischen ins Deutsche übersetzte Textbuch des Stückes "Dr. Korczak - Die letzte Reise" austauschten. Für alle war diese erste Begegnung mit diesem außergewöhnlichen Pädagogen nicht unproblematisch. Nicht, dass man dessen Tat nicht zu würdigen oder zu bewundern gewusst hätte, allein, die allzu heroische Darstellung seiner Person stieß auf Unverständnis und Kritik. Wie spielt man ein Stück, von dessen Machart man nicht überzeugt ist?
Wir fanden die Lösung in einer anhand des Originals erstellten Vorlage, die unter der Regie des Schauspielers Johannes Mager, der auch für die künstlerische Leitung verantwortlich zeichnete, erarbeitet wurde. Diese Fassung geht von einem Spiel auf einer Manegenbühne aus und ermöglicht den Akteuren ein intensives Spiel miteinander, bei dem sie sich auf ihre Empfindungen verlassen mussten. Außer der Titelfigur waren die Schülerinnen und Schüler nicht auf nur eine Rolle festgelegt, so dass sie sich fortwährend unter den Augen der Menge "verwandeln" mussten.
Doch was dem Zuschauer am Ende leicht und mühelos scheint, entstand in einem Prozess anstrengender Probenarbeit. Und dies bezieht sich nicht nur auf den zeitlichen Umfang, sondern oftmals auch auf die emotional tiefe Auseindersetzung mit der dargestellten Situation. Als sehr nützlich erwies sich die Arbeit in einem "Probenseminar" (siehe Bilder), das bei allen Beteiligten wertvolle Erfahrungen und tiefe Eindrücke hinterließ. So standen in dieser Woche nicht nur die Arbeit mit dem Text, sondern auch der Tanz und die Bewegung auf dem Programm, wozu die Schüler mit Hilfe der fachkundigen Anleitung einer Tänzerin befähigt wurden.
Ein Musiker komponierte, angeregt durch die Szenenarbeit, mehrere Titel, die letztendlich sehr wichtig für die Struktur des Stückes sind. Auch die ersten Beleuchtungsproben fielen in diesen Zeitraum. Während der gesamten Arbeit galt dabei immer die Devise, das Stück gemeinsam zu erarbeiten. Jeder Einwand wurde diskutiert und jede Anregung von allen geprüft.
All dies erklärt wohl auch das homogene Spiel aller Akteure, so dass die Aufführung zur Premiere ihre Wirkung nicht verfehlte: Die Zuschauer wurden eine Stunde lang in den Bann einer Geschichte gezogen, die aufgrund ihrer tiefen Menschlichkeit nicht nur als erneute Anklage, sondern vielmehr als leidenschaftlicher Aufruf verstanden sein sollte. Neben dem Autor war auch eine führende japanische Tageszeitung zugegen, in deren Artikel das Engagement der jungen Leute aufgrund des leider noch immer aktuellen Hintergrundes gelobt wurde.
Beeindruckend für alle Besucher und selbst die Organisatoren war das von zwei Schülerinnen der Klassenstufe 12 in Eigenregie erarbeitete Programmheft, für das eine Schülerin sogar in Israel recherchiert hatte. Dank der Unterstützung der Städtischen Bühnen konnte dies in ansprechender Form in Druck gehen und so als ein vielbeachtetes weiteres Zeugnis selbständiger Schülerarbeit zum Gesamtgelingen des Projektes beitragen.
Die mit so großem öffentlichen Interesse aufgenommene Aufführung war nicht nur für den Intendanten der Städtischen Bühnen Chemnitz Anlaß, weitere Aufführungen im Spielplan vorzusehen. So gastierte die Gruppe Anfang Februar 1997 am Theater Junge Generation in Dresden. Ende März fanden Aufführungen in der Schweiz (Bern und Hofwil) statt, wofür sich Herr Dr. Jost, Vorsitzender der Schweizer Korczak-Gesellschaft, persönlich eingesetzt hatte. Mit finanzieller Unterstützung der EUROPERA GmbH unter Leitung ihres Präsidenten Prof. Dr. Ludwig konnte auf Einladung des römischen Kulturzentrums Petro Lata auch ein dreitägiger Tourneeaufenthalt in Rom Wirklichkeit werden. Wesentlichen Anteil am Zustandekommen trägt Herr Dr. Voigt, der Leiter des Instituts für kulturelle Infrastruktur Sachsen. Unvergessen ist die Teilnahme an den Theatertagen der Evangelischen Kirche in Hannover vom 28. April bis 4. Mai 1997, wo die Gruppe eine Woche lang in Begegnungen mit Theatergruppen aus ganz Europa Erfahrungen austauschen und mit ihren Theaterkollegen ins Gespräch kommen konnte.
Das ursprünglich für Chemnitz geplante Projekt umfasst allerdings noch zwei weitere Bereiche: So wurde die Aufführung sowohl durch bildkünstlerische Arbeiten von Grund- und Leistungskursen als auch durch Schautafeln zum historischen Kontext, die von der AG Geschichte angefertigt worden sind, begleitet. Für diese Aufgabenfelder waren zwei Kolleginnen unseres Gymnasiums verantwortlich und betonten damit den fächerübergreifenden Charakter unserer Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur.
Auf diese Weise gelang es, viele Schülerinnen und Schüler in die Auseinandersetzung mit der deutschen - gleichermaßen europäischen - Geschichte einzubeziehen und ihnen am Beispiel Janusz Korczaks die jüngste Vergangenheit erlebbar zu machen. Entstanden sind beeindruckende Ergebnisse, deren zentrales Thema der Appell an die Menschlichkeit ist und die von Emotionalität geprägt sind und gleichzeitig von Reife und Nachdenken zeugen.