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Ort/Bundesland: Hessen |
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Uta George Gedenkstätte Hadamar Verein zur Förderung der Gedenkstätte Hadamar Mönchberg 8 D-65589 Hadamar http://www.gedenkstaette-hadamar.de/ People First Deutschland e.V. - Verein zur Förderung der Selbstvertretung von Menschen mit Lernschwierigkeiten Kölnische Straße 99 D-34119 Kassel http://www.people1.de/ |
Die Gedenkstätte Hadamar hat in den letzten Jahren vereinzelt Gruppen von Menschen mit Lernschwierigkeiten als Besucher/innen gehabt. Die Pädagog/inn/en waren angesichts von Anfragen dieser Gruppen oft verunsichert, da kein geeignetes Konzept und wenig Erfahrungen vorlagen. Aufgrund der Tatsache, dass es sich bei Menschen mit Lernschwierigkeiten aber um einen Teil der Opfergruppe handelte, erschien es als moralische Verpflichtung und als besondere Herausforderung, ihnen den Zugang zur Gedenkstätte zu eröffnen.
Der Verein zur Förderung der Gedenkstätte Hadamar e.V. nahm deshalb Anfang 2003 Kontakt mit dem Netzwerk People First Deutschland e.V., in dem Menschen mit Lernschwierigkeiten organisiert sind, auf. Ansatz war die Überlegung, dass die Betroffenen selbst am besten formulieren könnten, was ihre Bedürfnisse in einer Gedenkstätte wie Hadamar wären. Es sollte nicht über die Menschen gesprochen werden, sondern sie wurden als Experten und Expertinnen in eigener Sache angesprochen und gehört. Das Netzwerk People First Deutschland war zu einer Zusammenarbeit bereit.
Eine erste gemeinsam geplante und vorbereitete Tagung fand im Oktober 2003 in Hadamar statt. Es meldeten sich wesentlich mehr Interessent/inn/en an als berücksichtigt werden konnten. Die zwölf Teilnehmer und Teilnehmerinnen waren ausschließlich Menschen mit Lernschwierigkeiten. Außerdem waren zwei Assistentinnen anwesend. Das Team bestand aus vier Personen von People First und vier Personen vom Förderverein. In jeder inhaltlichen Sequenz wurde im Tandem gearbeitet, d.h. jeweils eine Person von People First und eine vom Förderverein.
Die gesamte Tagung fand in leichter Sprache statt, d.h. es wurden Fremdwörter, Anglizismen und Schachtelsätze vermieden. Das Tempo wurde an die Bedürfnisse der Teilnehmenden angepasst, die durch häufige Blitzlichter abgefragt wurden. Während des Wochenendes wurde die Gedenkstätte vorgestellt, über die NS-Euthanasie-Verbrechen gesprochen, es gab eine Gedenkzeremonie und viele Diskussionen und Gespräche. Am letzten Tag gaben die Teilnehmenden eine Empfehlung, wie eine Führung durch die Gedenkstätte für Menschen mit Lernschwierigkeiten aussehen sollte und sie definierten die Inhalte und Fotos für ein Faltblatt in leichter Sprache.
Das Faltblatt "Die Gedenkstätte Hadamar in leichter Sprache", herausgegeben von People First und dem Förderverein der Gedenkstätte. Die Empfehlung für eine gedenkstättenpädagogische Arbeit mit Menschen mit Lernschwierigkeiten beinhaltete leichte Sprache, ausreichend Zeit, Besuch der historischen Orte (Gaskammer, Friedhof) an unterschiedlichen Tagen und ein für die Teilnehmenden angemessenes Tempo.
Die erfolgreiche Durchführung der Tagung im Oktober 2003 fußte auf der Überzeugung, sich von gleich zu gleich zu begegnen. Für die Teamer/innen des Fördervereins lag die größte Herausforderung darin, die Teilnehmenden nicht zu bevormunden und sich stattdessen auf ihr Tempo und ihre Bedürfnisse einzulassen. Voraussetzung für vergleichbare Projekte ist unserer Einschätzung nach ein ganzheitliches Verständnis von Mensch-Sein. Gerade politische Bildungsarbeit mit einer gesellschaftlich stigmatisierten Zielgruppe verlangt eine diesbezüglich klare Positionierung der Teamer/innen.
Im September 2004 führten die beiden Vereine eine zweite Kooperationstagung durch. Diese Tagung wurde erneut gemeinsam vorbereitet. Ziel war es diesmal, von den Teilnehmenden eine Empfehlung zu erhalten, welche Inhalte und Dokumente der Dauerausstellung der Gedenkstätte sie für wichtig hielten. Diese Texte sollten dann von zwei Übersetzerinnen in leichte Sprache übertragen werden und ein Katalog in leichter Sprache sowie eine Audioversion sollten entstehen. Zu der Tagung kamen insgesamt 16 Teilnehmer/innen mit Lernschwierigkeiten. Vier von ihnen waren bereits bei der Tagung 2003 anwesend. Nach einem Kennen lernen der Gedenkstätte sowie einer Gedenkzeremonie arbeiteten die Teilnehmenden in zwei Gruppen an unterschiedlichen Tafeln und Themenbereichen innerhalb der Ausstellung. Eine Gruppe arbeitete zur Aktion T4, die andere zu den Morden ab 1942 und zu den Nachkriegsprozessen und Fragen der Entschädigung.
Interessanterweise hatten die Teilnehmer/innen beider Gruppen sehr unterschiedliche Voraussetzungen. Während in der Gruppe 1, die sich mit dem Thema Aktion T4 befasste, kaum Menschen waren, die lesen konnten, waren in Gruppe 2 fast alle in der Lage zu lesen und ihre Gedanken differenziert auszudrücken. Dies führte zu einem sehr unterschiedlichen Arbeiten.
In Gruppe 1 kam den Teamer/inne/n eine gewichtigere Rolle zu: neben der Moderation mussten sie die Inhalte der Tafeln in leichter Sprache wiedergeben, damit die Teilnehmenden in der Lage waren, die für sie relevanten Inhalte auszuwählen.
In Gruppe 2 konnten die Teilnehmenden relativ genau formulieren, was sie für wichtig hielten. Die Aufgabe der Teamer/innen beschränkte sich überwiegend auf die Moderation. Die Teams arbeiteten wieder gemischt, in jeder Gruppe waren vier Teamer/innen, zwei vom Förderverein und zwei von People First.
Durch konzentriertes Arbeiten gelang es, dass am Ende der Tagung eine Empfehlung für die zu übersetzenden Inhalte und die abzudruckenden Dokumente vorlag. Außerdem äußerten die Teilnehmenden noch, welche grafischen Veränderungen in der Ausstellung getätigt werden müssten, um sich darin besser zurechtfinden zu können.
Der Katalog in leichter Sprache erschien im März 2005. Menschen mit Lernschwierigkeiten lasen die übersetzte Textvorlage und gaben Rückmeldungen, ob die Texte verständlich waren oder nicht. Dabei war es wichtig, dass sowohl Menschen, die die Gedenkstätte Hadamar kannten als auch solche, die noch nie dort gewesen waren, die Texte lasen. Mit dem Katalog ist es gelungen, nicht nur sprachlich ein angemessenes Angebot für Menschen mit Lernschwierigkeiten (und viele andere, die lieber wenig Text lesen) zu erstellen, sondern auch die Perspektive von behinderten Menschen dominieren zu lassen, ein Fakt der in unserer Gesellschaft selten zu finden ist. Es wird empathisch über die Geschichte von Menschen mit Behinderungen berichtet, nicht sachlich-distanziert. (siehe Dokument: Feedback Christoph Munzert)
Der Katalog in leichter Sprache diente auch als Grundlage für die Audioversion. Diese wird Menschen mit Lernschwierigkeiten und andere Personen, die nicht lesen können, befähigen, sich die Ausstellung anzusehen bzw. die Audioversion wird auch als Hörbuch nutzbar sein.
Das Angebot in leichter Sprache hat zu einer signifikant höheren Anzahl von Besucher/innen mit Lernschwierigkeiten geführt. Die große Nachfrage des Katalogs deutet außerdem auf ein Interesse von Menschen mit Lernschwierigkeiten an historisch-politischer Bildung (in diesem Fall Gedenkstättenarbeit) hin. Wir sehen das Angebot in leichter Sprache als Teil von Normalisierung. Auch Menschen mit Lernschwierigkeiten sollten die Möglichkeit haben, sich historisch-politisch zu bilden, wenn sie es wünschen. Leichte Sprache soll dabei unterstützend sein. (siehe Dokument: Feedback Stefan Göthling)
Das Projekt wurde gefördert vom Land Hessen, dem Landeswohlfahrtsverband Hessen, der Aktion Mensch, der Stiftung für Bildung und Behindertenförderung und der IB-Behindertenhilfe Hessen.