Als am 30. November 1942 der Familie Foss aus der Pestalozzistraße in Berlin die Deportation drohte, erwies sich die Bekanntschaft mit der kaufmännischen Angestellten Helene von Schell als Rettungsanker. In ihrer kleinen Wohnung in der Moabiter Waldstraße bot sie dem Ehepaar Foss mit zwei Söhnen ein Versteck, wo die vierköpfige Familie bis zur Befreiung im April 1945 untertauchen konnte. An diese mutige Tat erinnert eine Gedenktafel, die sich seit März 1996 an dem Wohnhaus der 1956 verstorbenen Helene von Schell befindet. Obwohl inzwischen Hunderte von Beispielen bekannt geworden sind, in denen nichtjüdische Deutsche unter hohem persönlichen Risiko verfolgten und von der Deportation bedrohten Jüdinnen und Juden geholfen haben, fehlt bis heute eine zusammenfassende Darstellung und angemessene Würdigung dieses mutigen und solidarischen Handelns.
Von April 1997 bis Dezember 2002 hat (mit einer einjährigen Unterbrechung) eine Forschungsgruppe die "Rettung von Juden im nationalsozialistischen Deutschland" untersucht. Gefördert wurde das Projekt von der Robert Bosch-Stiftung, der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und der Kulturstiftung der Deutschen Bank. In einer zweijährigen Projektphase wurde dazu eine differenzierte Datenbank entwickelt, um möglichst viele Rettungsbemühungen in Deutschland - geglückte und mißlungene – während der Jahre 1933 und 1945 erfassen zu können. Der Schwerpunkt lag auf der Zeit von 1941 bis 1945.
Es konnten etwa 2900 Datensätze von Frauen und Männern, die jüdischen Verfolgten geholfen haben, und 2300 von Jüdinnen und Juden, die untergetaucht gelebt haben, angelegt werden. Zu jedem „Fall“ wurden soweit möglich Dauer, Art und Umfang der Hilfeleistung sowie Aussagen über die Motivation der Helfer festgehalten. Auch die Frage, ob sich „Retter“ und Verfolgte vorher bereits kannten oder ob sie sich völlig fremd waren, ist von Bedeutung. Außerdem wurden Informationen über Beruf, Schulbildung, konfessionelle und politische Orientierung aller Beteiligten in die Datenbank eingegeben. Auch wurde festgehalten, ob in der Zeit von 1945 bis heute eine öffentliche Anerkennung stattgefunden hat.
Nicht nur die geglückten Fälle, sondern auch die mißlungenen Rettungsversuche wurden erforscht, um Aussagen über die Ahndung der Hilfe für Juden unter der nationalsozialistischen Diktatur und den Bedingungen des Krieges zu ermöglichen. Hierzu wurden überregional relevante Aktenbestände ausgewertet wie z.B. Akten der NS-Justiz, Gerichtsverfahren aus der Nachkriegszeit, Polizeiberichte oder Akten von Entschädigungsämtern. Alle jüdischen Gemeinden wurden um Hinweise gebeten, ebenso die Staatsarchive und viele einschlägige Institutionen. Auch bereits publizierte Fälle wurden aufgenommen und Gespräche mit noch lebenden Helferinnen, Helfern, Verfolgten und anderen Zeitzeugen geführt.
Der regionale Schwerpunkt des Projekts lag auf Berlin, da hier vor dem Zweiten Weltkrieg die größte jüdische Gemeinde existierte und etwa die Hälfte der Versuche, sich durch Untertauchen der Deportation zu entziehen, in Berlin und Umgebung gewagt wurden. Die Initiative des Berliner Innensenators Joachim Lipschitz von 1958, Berliner Bürgerinnen und Bürger, die während des NS-Regimes Hilfe gegenüber Verfolgten leisteten, als "Unbesungene Helden" zu ehren, führte dazu, daß bei der Entschädigungsbehörde ein umfangreicher Aktenbestand von 1500 bearbeiteten Ehrungsanträgen entstand, der dem Projekt zur Auswertung zur Verfügung steht. Dies ermöglicht es, für Berlin einen großen Personenkreis der Helfer und der Überlebenden und ihre jeweilige Geschichte zu dokumentieren und zur Grundlage einer späteren sozialwissenschaftlichen Analyse zu machen. Aber auch zu Rettungsfällen in anderen Regionen Deutschlands in den Grenzen von 1937 lagen Informationen vor, die in der abschließenden Projektphase im Vordergrund standen.
Wie viele Hilfeleistende es insgesamt gab, läßt sich nur sehr schwer abschätzen. Dies liegt auch daran, daß meist mehrere Personen in einen Rettungsfall involviert waren: Mitwissende, Familienangehörige oder beispielsweise ein Arzt, der einem Verfolgten half. Viele der Untergetauchten waren darüber hinaus nicht die ganze Zeit an einem Ort, sondern mußten häufiger den Unterschlupf wechseln.
Ein weiterer Aspekt, der eine Antwort erschwert, ist die Frage danach, wo eigentlich Hilfe anfängt: In der Regel werden diejenigen Hilfeleistungen dokumentiert, durch die die Unterstützer sich selbst gefährdeten. Angesichts von Millionen Deutschen, die gleichgültig wegschauten oder den Völkermord guthießen und ihn aktiv unterstützten, ist die Zahl der Helferinnen und Helfer zwar erschreckend gering - aber doch größer, als gemeinhin bekannt. Die dokumentierten Beispiele zeigen, daß auch unter den Bedingungen der NS-Diktatur eine nicht unerhebliche Anzahl nichtjüdischer Deutscher - schätzungsweise mehr als Zehntausend - bereit und in der Lage waren, durch solidarisches Handeln verfolgte Juden vor der Vernichtung zu retten.
Ziel des Projektes war es darüber hinaus, der Widerstandsforschung neue Impulse zu geben. Viele der Helfenden definierten zwar ihr Handeln nicht als Widerstand, sondern empfanden es als selbstverständlich. Dennoch sollte man aus heutiger Sicht den oft lebensrettenden Einsatz dieser Frauen und Männer als eine Form des Widerstandes begreifen. Diese Einschätzung trägt auch einem veränderten Widerstandsbegriff Rechnung, der nicht mehr, wie lange in der Bundesrepublik Deutschland üblich, nur militärische Aktionen gelten läßt, die auf die Beseitigung des Regimes gerichtet waren. In Anbetracht der Unmöglichkeit, Hitler zu stürzen, war für viele die Hilfe für Juden die einzige Möglichkeit, ihren Widerstand gegen den Nationalsozialismus zum Ausdruck zu bringen.
Zentrum für Antisemitismusforschung