Mitten in Berlin, nördlich des Alexanderplatzes im alten Scheunenviertel, liegt der Rosa-Luxemburg-Platz, beherrscht vom monumentalen Bau der Volksbühne. Es ist ein geschichtsträchtiger Ort. Um Menschen, die um ihn herum lebten und die deutsche Geschichte, die sich hier abspielte, geht es in diesem sehr sehenswerten Dokumentarfilm der jungen Regisseurin Britta Wauer, Absolventin der Film- und Fernsehhochschule Berlin.
2005 erhielt sie zusammen mit Sissi Hüetlin den Adolph Grimme Preis für den Dokumentarfilm „Die Rapoports – Unsere drei Leben“ (ARTE/ZDF 2004). Für ihren ersten Film „Heldentod“ bekam sie bereits 2001 den Förderpreis des Deutschen Fernsehpreises. BERLIN - ECKE VOLKSBÜHNE ist ihr dritter Dokumentarfilm. Sie versteht nicht nur ihr filmisches Handwerk ausgezeichnet, sondern auch dramaturgisch Geschichte spannend zu visualisieren und aus vielen Erlebnisperspektiven nachvollziehbar zu machen. Daher wünscht man dem Film, dass er in Schulen und der politischen Bildung weite Verbreitung findet, auch über die Landesgrenzen hinaus. Der Regisseurin wünscht man weitere Ideen und vor allem Förderung für Dokumentarfilme dieser Art.
Der Film porträtiert den Rosa- Luxemburg-Platz in der Mitte Berlins als Symbol deutscher Geschichte. Es geht um kleine Geschichten von Menschen, Einzelschicksale, und große Geschichte des 20 Jahrhunderts. Sie spiegelt sich nicht zuletzt auch in dem fünfmaligen Namenswechsel des Platzes wieder: 1907 entstand er als Babelsberger-Platz, 1914-1933 umbenannt in Bülow-Platz, 1933- 1945 Horst-Wessel-Platz, nach 1945 von der sowjetischen Besatzungsmacht in Karl-Liebknecht- Platz, wurde er schließlich von der DDR in Rosa-Luxemburg-Platz umgewidmet. Und es geht in dem Film auch um die Frage, was die Menschen seit 100 Jahren an diesem kleinen Ort inmitten der deutschen Hauptstadt so fasziniert.
Schon vor dem Zweiten Weltkrieg war die Gegend um den Platz sozialer Brennpunkt. Es war eine ärmliche, eine eher triste Gegend, aber eine mit Charakter, Experimentierfeld für Stadtplanung und Sanierungen durch Architekten wie Hans Poelzig oder Oskar Kaufmann, Grundstücksspekulation, Verfall, Zerstörung und Wiederaufbau. Ostjüdische Einwanderer lebten in friedlicher Koexistenz mit kleinen christlichen Handwerkern und Gewerbetreibenden, aber auch jeder Menge fragwürdiger Existenzen. Hier war die Arena politischer und bisweilen auch militanter Kämpfe um die Ideen des 20. Jahrhunderts: linke und rechte Sozialdemokraten, Spartakisten, Kommunisten, Anarchisten, Polizisten der Kaiserzeit und der Weimarer Republik, schließlich Hitlers SA-Trupps hatten hier ihre Versammlungslokale, inszenierten Aufmärsche und es gab Krawall. Hier entwickelte sich aber auch „Berliner Szene“, es ging auch um Kunst, Kino und Theater. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg wurden viele Häuser abgerissen und ein Theater für Jedermann, die „Volksbühne“ gebaut mit Spenden vieler kleiner Leute. In dieser Gegend wuchs Ernst Lubitsch auf, hat "Der Hauptmann von Köpenick" seine Uniform gekauft, der KPD-Vorsitzende Ernst "Teddy" Thälmann Reden gehalten, Bertolt Brecht Randale erlebt, der Stasi-Chef Erich Mielke einen Mord begangen, für den er erst 50 Jahre später angeklagt und verurteilt wurde. Der "Reichs-Marschall" Hermann Göring hat hier ein inoffizielles KZ geführt. Hier ist Walter Ulbricht ins Theater gegangen und Victor Klemperer ins Kino.
Der Gegend um den Platz sieht man ihre bewegte Vergangenheit sieht man nicht auf den ersten Blick an. Trotz enormer Veränderungen stößt man manchmal noch auf Merkwürdigkeiten. Ein paar davon erzählt dieser Film. Als Stefan Lucks vor gut zehn Jahren seine Wohnung bezog, glaubte er noch, er käme in ein ganz normales Mietshaus. Aber als er bei der Renovierung die Tapeten von den Wänden kratzte, entdeckte er darunter kleine Davidsterne. Heute weiß er, dass sein Wohnzimmer früher ein Gebetsraum orthodoxer Juden war. Die Almstadtstraße, vor 1945 Grenadierstraße, war einmal die Hauptstraße der Ostjuden in Berlin. Zionistische Vereine, hebräische Buchhandlungen, Talmudschulen und viele kleine Synagogen Tür an Tür mit Kaschemmen, Puffs und Trödelläden kleiner Ganoven, die hier ihren Geschäften nachgingen. Seit 1926 hatte die KPD ihre Parteizentrale im Karl-Liebknecht-Haus, heute die PDS. Es gab jede Menge Straßenschlachten und immer wieder Tote. Die Polizei griff hart durch, ihr wurde Vergeltung angedroht, die auch wahrgemacht wurde. 1931 wurden zwei Polizeioffiziere vor dem Kino Babylon Opfer eines linksterroristischen Mordanschlags. Die flüchtigen Mörder hießen Erich Mielke und Walter Ulbricht. Die Tochter des erschossenen Polizisten Paul Anlauf erzählt als Zeitzeugin, wie sie als 11-jährige zur Vollwaisen wurde und vom Prozess gegen Mielke nach der Wende.
Auch Jürgen Löwenstein erzählt eindrucksvoll wie er als jüdisches Kind im Scheunenviertel aufwuchs und achtjährig den Machtantritt der Nazis als das Ende seiner Kindheit erlebte. Seine Eltern und die Großmutter wurden von den Nazis ermordet. Er überlebte Auschwitz, Todesmarsch und das KZ Mauthausen. Nach der Befreiung ging er nach Israel in einen Kibbuz und gründete eine neue Familie. Wenn er heute nach Berlin kommt, geht er in der Almstadtstraße, wo die letzte Wohnung seiner Eltern und Großmutter war. Dort liegen auch die „Stolpersteine“ zum Gedenken an seine ermordeten Angehörigen. Und er erzählt Berliner Schülern seine Geschichte vom Scheunenviertel, Auschwitz und der Befreiung 1945.
Nach dem Krieg kam die sowjetische Militäradministration und das Institut für Marxismus-Leninismus an den Rosa-Luxemburg-Platz. Das Kino Babylon und die Volksbühne veranstalteten über Jahrzehnte Premieren und Konzerte. Nach der Wende von 1989 wurde Frank Castorf Intendant der Volksbühne und machte das Theater zu einer der interessantesten deutschsprachigen Bühnen. Der letzte Schwenk der Kamera zeigt das von Castorf errichtete Logo und Markenzeichen der Volksbühne, ein Wagenrad auf Füßen, es ist ein altes Räuberzeichen und bedeutet „Achtung vor Überfällen“. Der Film, von dem man sich am Ende wünscht, er wäre noch nicht zu Ende, zeigt den Ort, an dem sich all diese Geschichten bündeln.
Der Film wird mit französischen und englischen Untertiteln als DVD produziert. Weitere Informationen über Vertrieb und Aufführungsmöglichkeiten:
Britzka-Film – Britta Wauer: www.britzka.de und Mail: film [at] britzka [dot] de
Ebenfalls für Schulen und die politische Bildung sehr empfehlenswert ist der mit dem Adolph Grimme Preis 2005 ausgezeichnete Dokumentarfilm von Sissi Hüetlin und Britta Wauer „Die Rapoports – Unsere drei Leben“ (ARTE/ZDF 2004) Er schildert die Lebensgeschichte des jüdisch-deutschen Ehepaars Inge und Mitja Rapoport. Nach der Flucht vor den Nazis in den USA machten beide als Wissenschaftler Karriere, wurden als Kommunisten in der Zeit des Kalten Krieges unter McCarthy erneut verfolgt , in die Flucht zurück nach Europa getrieben und fanden in der DDR ihre dritte Heimat.