Marion Samuel war ein ganz normales deutsches Mädchen, das in einem ganz normalen deutschen Städtchen, im neumärkischen Arnswalde (heute Choszczno), geboren wurde. Mit etwas Glück und Gesundheit könnte Marion heute noch leben. Marion Samuel wurde in Auschwitz ermordet, weil sie zwar ein deutsches, aber auch ein jüdisches Mädchen war.
Bevor Marion und ihre Eltern Cilly und Ernst Samuel von einem Berliner Sammellager per Bahn nach Auschwitz verschleppt wurden, durchlebten sie jene Prozeduren der systematischen Entrechtung und Entwürdigung, wie sie Raul Hilberg für den Gesamtprozess der Vernichtung des europäischen Judentums namhaft gemacht hat. Ab 1941 mussten Cilly und Ernst Samuel als "Rüstungsjuden" Zwangsarbeit für deutsche Firmen leisten: Cilly für die Firma Blaupunkt, Ernst für Daimler-Benz. Im Firmenarchiv von DaimlerChrysler ist alles säuberlich festgehalten: Name, Geburtsdatum, "Nationalität: Jude", Eintritt, Austritt.
Genauso abgründig sind die von Aly abgedruckten Vermögenserklärungen des Vaters und der Tochter - keine Reichsmark, über welche die zur Vernichtung Bestimmten nicht Rechenschaft ablegen mussten. Auch wenn man solche Dokumente schon einmal gesehen hat: Der perverse bürokratische Furor, mit dem deutsche Verwaltungsstellen über jeden "Vorgang" Buch führten, erschüttert einen immer wieder.
Die Stiftung Erinnerung benannte nach Marion Samuel einen Preis, um dieses Mädchen, über das sonst nichts bekannt war, stellvertretend für viele Hunderttausende ermordeter jüdischer Kinder vor dem Vergessen zu bewahren. Götz Aly erhielt 2003 diesen Preis. Für seine Dankesrede recherchierte er die Geschichte von Marion Samuel und fand zunächst nur kalte Behördendokumente.
Doch schließlich gelang es ihm, zwei überlebende Mitglieder der Familie ausfindig zu machen, die ihm wichtige Dokumente und einige Fotos anvertrauten. Eine ehemalige Mitschülerin, die sich bei dem Autor nach einem Zeitungsaufruf meldete, erzählte ihm von einer Begegnung mit Marion Samuel 1938: "Plötzlich fing Marion an zu weinen und sagte, sie hätte Angst. Ich war verwundert, denn sie sagte 'Da gehen Menschen durch einen Tunnel im Berg und da ist auf dem Weg ein großes Loch und alle werden hineinfallen und sind weg'." Welche Angst muss Marion gehabt haben.
Der Bericht wirft ein Licht auf die deutsche Verfolgungspolitik, der auch Marion Samuel und ihre Familie zum Opfer fiel. Hans Martin Lohmann schrieb in der "Zeit" zu diesem Buch: "Dieses kleine anrührende Buch, das der Lebensgeschichte eines deutsch-jüdischen Kindes und seiner Familie nachgeht, vermag ganze Bibliotheken über den Nationalsozialismus zu ersetzen. Gerade weil es darin um ein individuelles Gesicht und ein individuelles Geschehen geht und weil es Alys sensibler Hand gelingt, das Besondere mit dem Typisch-Allgemeinen stimmig zu verbinden, bleibt es dem Leser nicht erspart, vor Scham zu erröten - Scham darüber, was im Namen des Menschen, also im eigenen Namen, geschehen konnte und geschehen kann. Alys Buch müsste von jeder öffentlichen und Schulbibliothek als Pflichtexemplar angeschafft werden."
Götz Aly, geboren 1947, Ausbildung an der Deutschen Journalistenschule in München, Studium der Politischen Wissenschaft und Geschichte in Berlin, Promotion und Habilitation. Er gab neun Bände der »Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik« heraus, war Redakteur der taz und der Berliner Zeitung, heute arbeitet er als freier Autor, gelegentlich als Gastprofessor, zur Zeit Gastprofessur für interdisziplinäre Holocaustforschung an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. 2002 erhielt er den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste, Berlin-Brandenburg, 2003 den Marion-Samuel-Preis der Stiftung Erinnerung.