Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges und bis 1941 gelang es ca. 18 000 Juden aus Mitteleuropa vor dem Naziterror nach Shanghai zu flüchten. Das war der letzte Ort, den jüdische Flüchtlinge unter meist abenteuerlichen Umständen noch erreichen konnten. Über lange Zeit wurde diese Emigration in der deutsch-jüdischen Geschichts- und Exilforschung kaum beachtet. Shanghai galt als "Exil der kleinen Leute". Die Shanghai-Flüchtlinge waren keine "Prominenten" aus Kunst, Politik oder Wissenschaft. Auch nach ihrer Rückkehr nach Deutschland waren es nur wenige, die im öffentlichen Leben bekannt wurden.
Die erste Anregung zur Erinnerung an das Exil in Shanghai ging 1996 in Berlin von einem Initiativkreis ehemaliger Shanghai-Flüchtlinge aus und gab in Zusammenarbeit mit dem Verein Aktives Museum Berlin den Anstoß für eine vielbeachtete Ausstellung "Leben im Wartesaal - Exil in Shanghai 1938-1947". Sie wurde anlässlich des 50. Jahrestages der Rückkehr von 295 Flüchtlingen aus China im Jahr 1997 in Berlin und Wuppertal umrahmt von einer Veranstaltungsreihe gezeigt. Die Ergebnisse dieser Forschungen erschienen im Jahr 2000 als Dokumentation unter dem Titel "Exil Shanghai 1938-1947 - Jüdisches Leben in der Emigration".
Der amerikanische Historiker Steve Hochstadt, dessen Großeltern aus Wien geflohen waren und zehn Jahre in Shanghai verbringen mussten, hat für diesen 2007 in deutscher Übersetzung erschienenen Band "Shanghai-Geschichten" ehemalige Shanghai-Flüchtlinge und ihre Kinder zum Erinnern und Sprechen gebracht, der die bereits vorliegenden Dokumentation ergänzt.
Das Leben der Shanghai-Flüchtlinge verlief unter unglaublichen Entbehrungen und oftmals menschenunwürdigen Bedingungen, insbesondere nachdem die mit dem nationalsozialistische Deutschland verbündeten Japaner sie 1943 in ein Ghetto im Stadtteil Hongkou einwiesen. NS- Restriktionen wirkten sich zudem in Fernost aus über das Deutsche Generalkonsulat in Shanghai. Doch half dieses Exil auch Leben zu retten. Nach Jahren des Überlebenskampfes konnten im Juli 1947 einige dieser Exilanten nach Mitteleuropa zurückkehren.
Aus mehr als 100 Zeitzeugen-Interviews, die Hochstadt über zwanzig Jahre sammelte, hat er zwölf als Erzähler ausgewählt. Sie schildern jeweils ihre persönlichen Familiengeschichte sowie in neun thematischen Kapiteln die allgemeine Geschichte dieses Exils. Die Hälfte der hier zu Wort kommenden Zeitzeugen entschieden sich nach ihrer Rückkehr übrigens für ein Leben in der DDR.
Hochstadt bewahrt weitgehend die authentische Sprechweise der Interviews. Bis auf kurze sachliche Einleitungen zu den einzelnen Themen fügte er keine eigenen Ideen hinzu. Durch Auswahl, seine eigene Strukturierung und Zusammenstellung der Erzählungen ist ein lesenwertes „Geschichtsbuch“ über die „größere Geschichte der ganzen Gemeinschaft“ der Shanghaier entstanden, das durch eine Auswahlbibliografie sowie ein Namens- und Ortsregister ergänzt wird.
G. Armbrüster, M. Kohlstruck, S. Mühlberger (Hg.): Exil Shanghai 1938-1947 - Jüdisches Leben in der Emigration. Verlag Hentrich & Hentrich, 272 S., 45,00 €