Im Hinblick auf gegenwärtige Potentiale von Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus in der Mitte der bundesrepublikanischen Gesellschaft herrscht ein breiter Konsens über die Notwendigkeit einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Geschichts-, Politik- und Gemeinschaftskundeunterricht. Jedoch führt die breite pädagogische Thematisierung nicht selbstverständlich zu einer intensiven individuellen Auseinandersetzung, sondern wird von vielen Jugendlichen als inflationär wahrgenommen und ruft nicht selten die Reaktion hervor, dass man „das Thema nicht mehr hören könne“. Es stellt sich damit die drängende Frage, welche Formen historisch-politischer Bildung im Blick auf die Themen Nationalsozialismus und Rechtsextremismus hilfreich und sinnvoll sind.
Die Autorinnen und Autoren des gerade im Wochenschau Verlag erschienenen Bandes „Bevor Vergangenheit vergeht“ zeigen sowohl systematisch als auch exemplarisch Strategien und Möglichkeiten historisch-politischer Bildung im Blick auf Nationalsozialismus und Rechtsextremismus auf. Der Band geht auf eine im Oktober 2003 in der Evangelischen Akademie Bad Boll veranstaltete Tagung für pädagogische Fachkräfte der politischen Bildung zurück.
Das erste von vier Kapiteln trägt den Titel Reflexionen und eröffnet erste grundlegend hilfreiche Perspektiven schulischer Auseinandersetzung mit der Thematik sowie einen Einblick in den gegenwärtigen wissenschaftlichen Diskurs der Geschichts- und Politikdidaktik. Das zweite Kapitel unter dem Thema Begegnungen zeigt auf der Grundlage aktueller Untersuchungsergebnisse zur individuellen und kollektiven Erinnerungskultur die Möglichkeiten und Grenzen der Oral history auf. Diese Form der unmittelbaren Begegnung erfreut sich auch in Deutschland wachsender Beliebtheit, hat jedoch mit der Tatsache zu kämpfen, dass auch die letzten Zeitzeugen in den nächsten Jahren sterben und die „dritte Generation“ der Enkel ohne Zeugen des Nationalsozialismus in ihrem Umfeld zurücklassen werden.
Im dritten Teil werden unter dem Leitbegriff Unterrichten innovative didaktische Wege der Thematisierung von Ursachen, Phänomenen und Konsequenzen des „Dritten Reiches“ sondiert, während der vierte Abschnitt Anschauungen verschiedene visuelle Wege individueller Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit eröffnet.
Die Autorinnen und Autoren des Bandes (Götz Aly, Bodo von Borries, Micha Brumlik, Annegret Ehmann, Andrea Hoffmann, Bernd Holtwick, Werner Imhof, Peter Massing, Susanne Maurer, Alice von Plato, Matthias Proske, Angelika Rieber, Barbara Schäuble, Thomas Schlag, Michael Scherrmann, Thomas Stöckle, Martin Wedel, Georg Weißeno, Harald Welzer, Roland Wolf, Peter Zimmermann) leisten einen wichtigen Beitrag zu einem zeitgemäßen Geschichts- und Politikunterrichts über Nationalsozialismus und Rechtsextremismus.
Um der Position des „Nicht-Mehr-Hören-Könnens“ begegnen zu können, gilt es, Bodo von Borries Plädoyer für einen expliziten Zukunftsbezug historisch-politischer Bildung zu diskutieren und diesen Ansatz zu entwickeln. Für eine dem Gegenstand angemessene pädagogische Auseinandersetzung mit Rassismus und Rechtextremismus ist vor allem der Verweis Barbara Schäubles auf die (vergessene) rassistische deutsche Kolonialvergangenheit und die institutionelle Form des Rassismus in der Bundesrepublik von Belang.
Die Publikation wendet sich in erster Linie an Didaktiker/innen, Lehrer/innen und Multiplikator/innen der außerschulischen Bildungsarbeit. Sie kann insbesondere als eine Einführung in die aktuellen fachwissenschaftlichen Diskussionen über den NS von Nutzen sein.