In der von Aporien und Paradoxien geprägten Auseinandersetzung mit dem „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) Auschwitz kommt der Literatur seit jeher eine zentrale Rolle zu. Sie ist Medium der Artikulation und Erinnerung und verfügt als eine sprachliche Kunst über die Fähigkeit, Tragweite und Leistungsfähigkeit individuellen Handelns (selbst-)kritisch zu reflektieren.
Vor dem Hintergrund, dass die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen bewahrt werden muss sowie der Erkenntnis, dass die Nachgeborenen neben Darstellungen in Filmen und an Gedenkorten überwiegend Sachinformationen/ -zeugnisse sowie und Interpretationen der historischen Ereignisse angeboten bekommen, damit diese in Erinnerung bleiben, ist die Bedeutung der Literatur für die Erinnerungskultur evident. Hinsichtlich der schulischen Implementierung des Genres´ “Holocaust-Literatur“ muss dahingegen, trotz der anhaltenden Erinnerungskonjunktur der letzten Jahre, insbesondere für das Fach Deutsch ein Mangel an fundierten und weiterführenden didaktischen Überlegungen und Handreichungen konstatiert werden, der Schülerinnen und Schüler mit der Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust zu konfrontieren beabsichtigt, die angesichts der wachsenden zeitlichen Distanz keine persönliche Beziehung zu Tätern, Opfern, Mitläufern und Zeitgenossen mehr haben.
Ausgehend von diesen Prämissen stellt sich der von Jens Birkmeyer, Dr. phil., OStR. i. H. für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms - Universität Münster, herausgegebene Band über „Holocaust-Literatur und Deutschunterricht“ der ambitionierten Herausforderung, dem besagten Theorie- und Handlungsdefizit literarischer Bildung junger Menschen abzuhelfen. Einem zu vernehmenden Überdruss an schulischer Beschäftigung mit dem Genozid an den europäischen Juden steht dabei die Erkenntnis gegenüber, dass Jugendliche dem historischen Komplex Nationalsozialismus und Holocaust durchaus nicht teilnahmslos gegenüber stehen. „Es gilt daher“, so der Herausgeber, „diese ambivalente Problemkonstellation aufzuklären, kritisch zu bilanzieren und verstärkt über neue Impulse und Konzepte nachzudenken, die den heutigen Anforderungen angemessen sind und v. a. die kulturell-literarischen Möglichkeiten des Deutschunterrichts betonen.“ (S. 1)
Die insgesamt 16 Beiträge dieser Publikation – vorwiegend von Literaturwissenschaftlern und Pädagogen verfasst – gehen auf Vorträge einer Tagung über „Holocaustliteratur und Deutschunterricht - Erinnerungskultur in schulischer Perspektive“ zurück, die im November 2005 im Geschichtsort Villa ten Hompel in Münster stattfand und sich im Wesentlichen der Fragestellung angenommen hat, wie in Zeiten instabiler kultureller Identitäten und einer schwindenden historischen Bildung Heranwachsender anstelle moralisierender frontaler Überzeugungsarbeit im Sinne längst überkommener Schuld- Narrationen neue Wege des Unterrichtens im Fach Deutsch zu begründen und zu beschreiten sind, ohne dabei Gefahr zu laufen, ritualisierenden Gedenkinszenierungen oder einem „Krypto-Geschichtsunterricht“ zu verfallen.
Die Befähigung, am kollektiven Gedächtnis Anteil nehmen zu können, hängt nicht zuletzt vom Grad der literarischen Bildung ab – so die These. So widmet sich Oliver Geister zunächst der nur auf den ersten Blick banal anmutenden Frage, ob denn „die Institution Schule überhaupt der geeignete Ort [sei], Aufklärung darüber zu leisten, wie es zu Auschwitz kam, mit dem Ziel, ein weiteres Auschwitz zu verhindern“ (S. 27)? Der Autor stellt im Folgenden die These auf, dass die gegenwärtige institutionelle Struktur der Schule ein Scheitern des von Adorno aufgezeigten Diktums einer „Erziehung nach Auschwitz“ bedingen muss, Schule sich vor dem Hintergrund einer lebendigen Erinnerungskultur und gleichsam als Bestandteil selbiger der Herausforderung dennoch nicht entziehen kann.
Geister geht von der Annahme aus, der Holocaust sei als ein genuin modernes Phänomen zu charakterisieren und bezieht sich in seinem Beitrag kritisch auf die grundlegende Analyse „Dialektik der Ordnung“ des polnisch-britischen Soziologen Zygmunt Bauman, der den Genozid an den europäischen Juden als eine wenngleich nicht notwendige, jedoch „denkmögliche“ Manifestation der Moderne versteht. Das moderne Ordnungsstreben bedinge neben dem technischen Fortschritt eben auch den moralischen Rückschritt, und die Institution Schule kann in diesem Kontext ebenso als eine solche moderne Errungenschaft gekennzeichnet werden. So plädiert Geister nachdrücklich für eine Transparenz der Aporie von Moderne und somit auch von Schule. „Das könnte dadurch geschehen, dass man die Dialektik von Aufklärung und Ordnung im Schulunterricht problematisiert und zugleich zeigt, inwiefern die Schule und womöglich jeder Einzelne selbst in diesen Fängen verstrickt ist.“ Mit anderen Worten: die Aufklärung der Aufklärung.
Clemens Kammler zeigt in seinem spezifischer am Titel des Bandes ausgerichteten Beitrag Möglichkeiten des Beitrags von Literatur und Literaturunterricht im weiten Feld der Erinnerungskultur auf. Kammler betont die Komplementarität von historischem Wissen und ästhetischer Erfahrung und kennzeichnet literarische Narrationen als ein „Problematisierungsmedium par excellence“ (S. 55), mit dem die kontinuierliche Auseinandersetzung mit den nationalsozialistischen Verbrechen gewahrt werden könne. Als Beispiel für eine solche Strategie der Problematisierung führt Kammler Ruth Klügers Autobiographie „weiter leben. Eine Jugend“ an, weist jedoch zugleich darauf hin, dass Klügers Text darüber hinaus noch weiter reichende Ansatzpunkte literarischen Lernens wie die ästhetischen Voraussetzungen einer individuellen und kollektiven Symbolrezeption als Basis allgemeiner Verstehensprozesse aufweist.
In seinem theorielastigen, gleichwohl äußerst interessanten Aufsatz beschäftigt sich Jens Birkmeyer mit den Schwierigkeiten eines Literaturzugriffs, der auf der einen Seite weder mentale Abwehrreaktionen junger Menschen gegenüber dem Komplex Holocaust (im Sinne eines „Nicht schon wieder Auschwitz“) evozieren möchte, noch auf der anderen Seite der Gefahr unterlaufen darf, die genuine Qualität literarischer Texte zu übersehen bzw. durch naive Didaktisierungen zu negieren. So wendet sich der Autor der Frage zu, ob Erinnerung als eine paradigmatische literaturdidaktische Kategorie aufgefasst werden kann, die im Sinne einer „Ethik des fragenden Suchens“ (S. 67) letztlich das Ziel der Generierung einer Diskursfähigkeit junger Menschen an gesellschaftspolitisch relevanten Diskursen über die Vergangenheit intendiert. In diesem Sinne greift Birkmeyer Adornos berühmte Forderung nach einem soziologisch orientierten Unterricht auf, grenzt sich jedoch davon ab und plädiert für eine zunehmend ethische Ausrichtung literarischen Lernens, womit er sowohl einen ethischen Diskurs über als auch anhand von Literatur versteht. Der Verdienst dieses Beitrags liegt darin begründet, dass Literaturunterricht als ein den Schülern prinzipiell offen stehender Lern- und Erfahrungsraum verstanden wird anstelle eines ritualisierten Unternehmens bereits a priori feststehender Inhalte.
In einem weiteren lesenwerten Beitrag spricht sich Ulrike Schrader für eine Ausweitung des Literaturbegriffs auf Texte im öffentlichen Raum aus und zeigt anhand des örtlichen Kriegerdenkmals in Speyer plausibel den literaturdidaktischen Wert dieser Textsorte sowie methodisch-didaktische Möglichkeiten ihrer Einbindung in den (außer-)schulischen Unterricht auf Andere Autoren widmen sich generationsspezifischen Fragestellungen im Umgang mit dem Holocaust (Messerschmidt, Blasberg), dem didaktischen Potenzial von Nachgeschichten des Genozids am Beispiel aktueller Jugendliteratur (Köster) oder den spezifischen Besonderheiten kindlicher Kommunikationsstrukturen über die nationalsozialistischen Verbrechen (Flügel, Terrahe, Wyrobnik) – Letzteres verweist auf die in den letzten Jahren zunehmend aktueller gewordene Frage des Für und Wider einer Implementierung des Holocaust als Thema im Deutschunterricht der Grundschule.