Mit der zweiten, um ein aktuelles Nachwort erweiterten Auflage ihrer sozial-psychologischen Studie "Loyalität und Verblendung. Hitlers Garanten der Zukunft als Träger der zweiten deutschen Demokratie" präsentiert Sibylle Hübner-Funk unter verändertem Titel erneut ihre 1998 erschienene grundlegende Untersuchung der De-Konversions- und Re-Zivilisationsprozesse, die die Angehörigen der "Hitlerjugend-Generation" nach Hitlers Selbstmord und dem Zusammenbruch des Dritten Reiches durchlaufen haben.
Neue Aktualität wurde dem Buch zuteil, das die Autorin im April in Frankfurt am Main im Rahmen des internationalen Kongresses "Die Generation der Kriegskinder und ihre Botschaft für Europa 60 Jahre nach Kriegsende" vorstellte. Der von über 600 Angehörigen dieser Generation besuchte Kongress setzte sich mit den psychischen, physischen und sozialen Spätfolgen traumatischer Kriegs- und Kindheitserlebnisse der zwischen 1927 und 1947 Geborenen auseinander.
Thematisch reihte der Kongress sich ein in die schon seit einiger Zeit geführte Debatte um die deutschen Opfer des Bombenkriegs, von Flucht und Vertreibungen, Hunger, Vergewaltigungen, sowie um die Leiden durch Verlust von Angehörigen und die Existenzangst in der Nachkriegszeit. Wenn sich diese Generation der Kriegskinder nun 60 Jahre danach und 15 Jahre nach der deutschen Vereinigung mit ihrem Eintritt ins Rentenalter zu Wort meldet, und sich die historische, soziologische vor allem aber die psychoanalytische Forschung jetzt mit ihrem Schicksal auseinandersetzt, so beweist das gleichwohl nicht, dass diese Thematik bislang unterdrückt wurde.
Über Kindheit, Jugend und Erziehung im Nationalsozialismus liegt bereits eine Fülle wissenschaftlicher, biographischer und belletristischer Literatur vor. Die Studie von Sibylle Hübner Funk bietet insofern einen über den bisherigen Wissensstand hinausweisenden Beitrag, als sie erkenntnisleitend die Frage nach den "Sozialisationswirkungen des NS Staates" auf diese Jugendjahrgänge stellt, die in ihrer formbarsten Entwicklungsphase dem indoktrinierenden NS- Macht- und Gesinnungsmonopol ausgesetzt waren. Sie untersucht die mentalitätsgeschichtlichen Wirkungen, die der "totale" NS-Staat und dessen "totaler" Krieg bei den Überlebenden der HJ und BDM-Jahrgänge des "Dritten Reiches" hinterlassen hat, bei den Jahrgängen also, die diesem Regime von ihrem zehnten Lebensjahr an "gedient" haben, und die Hitler als seine "Garanten der Zukunft" betrachtete.
Insbesondere geht es um die kollektiven Grundkomponenten der NS-Sozialisation, die eine starke emotionale Loyalitätsbindung an "Führer, Volk, und Vaterland" erzeugt und zur nationalen Identität als "kämpferische Gefolgschaft" gesteigert haben. Angesichts des militärischen, staatlichen und ideologischen Zusammenbruchs des NS-Staates und der von den alliierten Siegermächten implementierten Umgestaltung der politischen Strukturen und Werte wird anhand biographischer Selbstdarstellungen von Angehörigen dieser Generation analytisch erschlossen, auf welche Weise und in welchen Zeiträumen sie sich von diesen Einflüssen und Traumatisierungen ihrer Kind- und Jugendzeit zu befreien vermochten. Diese 1946 von den Alliierten amnestierten Jahrgänge wurden zum Aufbau Nachkriegsdeutschlands dringend gebraucht.
Im Rahmen der umfassenden politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Neuordnung wurde diesen Jugendlichen erneut eine Vorbildrolle abgefordert, Garanten der Zukunft eines neuen Deutschland - in West und Ost - zu sein, die durch das Re-Education Programm von ihren alten Idealen radikal Abschied nehmen sollten. Die überlebenden Angehörigen der "Hitlerjugend-Generation" akzeptierten aus naheliegenden Gründen die neuen politischen Verhältnisse als Chance, ohne sich weiter mit ihrer eigenen Bindung an das untergegangene politische System auseinander zusetzen.
Weite und nachhaltige Verbreitung fand die Deutung, diese Generation sei vom Nationalsozialismus "getäuscht" und "missbraucht" worden. So konnte verdrängt werden, dass zahllose Jugendliche sich subjektiv keineswegs "missbraucht" gefühlt, sondern sich für eine große Idee und Aufgabe begeistert und eingesetzt hatten. Die viele Energien erfordernden Aufbaujahre begünstigten den Verdrängungsprozess dieser Generation ebenso wie eine innerer Zensur, sich durchaus der eigenen Opfer- und Täterrolle und der der Eltern bewusst zu sein, bzw. der Beteiligung der Väter der Kriegskinder an den Verbrechen des rassistischen Angriffs-, Raub- und Vernichtungskrieges und am Holocaust.
Da derzeit der Abschied dieser Generation aus Politik und Kultur des vereinten Deutschland stattfindet, kann das Buch auch als kritischer Nachruf auf eine zweifach politisierte und zugleich tief ernüchterte Generation verstanden werden. Die Autorin, die zur Generation der jüngeren "Kriegskinder" gehört, nimmt diese Überlebenden in ihrer - individuellen wie kollektiven Lebensleistung ernst und versucht, ihre mühsamen Wege zu einem zivilen, friedlichen Dasein sozialwissenschaftlich verstehend zu beschreiben: "Zu leben nach so viel Tod, aufzubauen nach so viel Zerstörung, wahrhaftig zu sein nach so viel Lüge!"
Sibylle Hübner-Funke, Soziologin und Erziehungswissenschaftlerin (Dr. phil. habil.) ist seit mehr als drei Jahrzehnten als Jugendforscherin in den Bereichen der historisch-politischen und somatisch-kulturellen Sozialisationsforschung am Deutschen Jugendinstitut e.V. in München tätig, wo sie sich vor allem für europäisch vergleichende Projekte und internationale Forschungskooperation engagiert.
Leiter des Forschungsprojekts ist Prof. Dr. Jürgen Zinnecker am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. Zur Vorstellung des Projekts auf der Website des Instituts: http://www.kwi-nrw.de/home/projekt-32.html und zur Website des Projekts: http://www.weltkrieg2kindheiten.de/
Der gemeinnützige Verein "kriegskind de" e.V. bearbeitet das Thema von damals und heute international und steht in Verbindung mit anderen europäischen Gruppen. Der gemeinnützige "Förderverein Kriegskinder für den Frieden e.V." will Forschung über kriegsbedingte seelische Schädigungen und ihre generationelle Weitergabe fördern.
Kontakt über E-mail: curt [dot] hondrich [at] t-online [dot] de
Zum Thema "Hitlerjugend-Generation" gibt es auch eine Rezension zu "Habe ich denn allein gejubelt? Eine Jugend im Nationalsozialismus" von Eva Sternheim-Peters auf diesem Webportal: [node:4137]