Der von Helma Lutz und Kathrin Gawarecki herausgegebene Band dokumentiert eine Konferenz im Frühjahr 2004 in Münster mit Teilnehmern aus Deutschland, den Niederlanden, Belgien und der Schweiz unter dem Titel "Postkolonialismus und Erinnerungskultur. Blinde Flecken im kollektiven Gedächtnis der Niederlande und Deutschlands". Auf der Konferenz wurde aus der Perspektive unterschiedlicher Fachdisziplinen wie Erziehungswissenschaft, Soziologie, Geschichte, Afrikanistik, Niederlandistik, Literatur- und Filmwissenschaft mit Forschern und Praktikern aus Schulen, Museen und Gedenkstätten kontrovers miteinander über die gesellschaftlichen Folgen des Kolonialismus diskutierten.
Der Band will die unterschiedlichen, keineswegs abgeklärten Debatten in beiden Ländern mit neuen Impulsen unterstützen. Wie nachhaltig und dauerhaft der moderne europäische Kolonialismus die heutige Welt geprägt und verändert hat, wird an den politischen und wirtschaftlichen, vor allem aber "mentalen" Strukturen verdeutlicht. Eine kritische Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit und ein Gedenken der Opfer sind in den ehemals kolonisierenden Gesellschaften dabei bisher weitgehend ausgeblieben. Dieser Befund trifft in unterschiedlichem Ausmaß beide Länder, auf Deutschland und die Niederlande zu, wie die Beiträge des Sammelbandes zeigen.
Die Autorinnen und Autoren reflektieren den gegenwärtigen Stand der nachkolonialen Erinnerungskulturen in der Pädagogik, in literarischen Werken und im öffentlichen Gedenken. Neue Herausforderungen an ein bislang ethnozentrisch geprägtes kollektives Gedächtnis ergeben sich durch die zunehmende Globalisierung und die Pluralisierung der beiden Staaten in ihrem Wandel zu Einwanderungsgesellschaften.
Drei den Band abschließende Beiträge erörtern die Zukunft von Erinnerung in einer sich entwickelnden Weltgesellschaft. Es werden u.a. überzeugende Argumente aber auch Bedenken für die These geliefert, dass eine Erweiterung der Gedenkkultur auf diese anderen vor-faschistischen Genozide notwendig ist. Der deutsche Kolonialismus muss, so die Herausgeberinnen im Vorwort, schon deshalb erinnert werden, weil er zur Vorgeschichte der nationalsozialistischen Genozide gehört, die nur durch die historische Kontextualisierung in ideologische und militärische Traditionslinien erklärbar werden und die gemeinsamen Wurzeln des rassistischen Denkens in der nationalen Erinnerungskultur offen legen, die unter diesem Aspekt kritisch diskutiert werden müssen.
Der Autor, durch zahlreiche Publikationen ausgewiesener Kenner der deutschen und namibischen Kolonialgeschichte, seit 2000 Forschungsdirektor des Nordic Africa Institute in Uppsala/Schweden, hat in diesem Band Fachbeiträge einer Konferenz vom Oktober 2004 an der süddänischen Universität Odense zum Thema zusammengestellt, in denen die deutsche Kolonialherrschaft in Namibia aus historischer, völkerrechtlicher und literarischer Sicht beleuchtet wird.
Anlass der Konferenz war das 100-jährigen Gedenken an den Völkermord an den Herero und Nama mit dem Ziel, nachdrücklich mit Engagement und Betroffenheit aus heutiger Perspektive auf diese Geschichte als unerledigtes Kapitel deutscher und namibischer Beziehungsgeschichte hinzuweisen. Auch in diesem Band wird bezugnehmend auf die neuere Holocaust Literatur und die etablierte These der Singularität des Holocaust nachdrücklich für die notwendige Erweiterung der Perspektive in der Gedenkkultur und eine Überwindung des Eurozentrismus in der Betrachtung der Kolonialgeschichte plädiert.
Von besonderem Wert ist u.a. der abschließende kenntnis- und aufschlussreiche Beitrag "Genozid und Gedenken" von Joachim Zeller, der einen Einblick in die verschiedenen auch miteinander konkurrierenden Erinnerungskulturen in der multiethnischen namibischen Gesellschaft, aber auch bei den verschiedenen Hererogruppen untereinander gibt und sie der Situation in Deutschland gegenüber stellt. An dem chronologischen Überblick ( mit aktuellen Fotos) über die Aktivitäten im Gedenkjahr 2004 in Namibia und Deutschland wird die Asymmetrie des Erinnerns überdeutlich.